Unter allen Beeten ist Ruh
Prolog
Der märkische Sand knirschte unter Lutz Erdmanns italienischen Schuhen, als er den Weg durch die Parzellen einschlug. Mit leichtem Stirnrunzeln musterte er die feine Staubschicht, die sich der glänzenden Eleganz bemächtigt hatte, und verfluchte die Angewohnheit der Bewohner von Schreberwerder, täglich vor ihren Kleingärten zu harken.
Erdmann straffte die Schultern. Bald würde sich das alles ändern. Dafür würde er sorgen. Dies war seine persönliche Mission, und sie würde gelingen.
Aus dem Augenwinkel sah Erdmann, wie Herr X auf der anderen Seite seines lächerlichen Gartenzaunes die Spritze mit dem Unkrautvertilgungsmittel sinken ließ und ihm nachstarrte. Lutz Erdmann lächelte spöttisch. Du kommst auch noch dran. Künstler. Notorisch pleite. Leichtes Spiel.
Er sah nicht mehr, dass Herr X die Augen zusammenkniff und einen dicken Strahl aus der Sprühflasche in seine Richtung schickte. »Ungeziefer«, murmelte Herr X.
Dann verließ er seine Stangenbohnen und rannte zum einzigen Fahnenmast der Insel. Eilig hisste er die blutrote Flagge mit dem schwarzen Totenkopf. Jetzt waren Viktor und Luis an der Reihe. Und Plan B.
Lutz Erdmann sah nicht zurück. Kerzengerade stand er vor einer schmiedeeisernen Pforte, die er liebend gerne eingerissen hätte, zupfte noch einmal an der Zellophanfolie, die sich um sündteure Calla und Strelizien bauschte, und zog an der Glockenschnur. Ein helles Läuten erklang.
Fast augenblicklich erschien Dorabella von Schlittwitz’ schlanke Gestalt in der Tür ihres Schreberhäuschens. Sie zog die Stirn in Falten und kam dann mit Hilfe zweier Krücken erstaunlich gewandt den Plattenweg entlang. Lutz Erdmann knipste ein strahlendes Lächeln an, das von Dorabella jedoch weder beachtet noch erwidert wurde. Am Gartentor hob sie drohend eine Krücke und bellte: »Sie stören!«
Lutz Erdmann zuckte mit keiner Wimper. Er hielt den Blumenstrauß hoch und gurrte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe gnädige Frau. Hätten Sie einen Moment Zeit?« Er griff nach der Klinke des Tores. »Darf ich …?«
»Nein«, antwortete Dorabella bestimmt. »Wir haben nichts zu besprechen. Sie bekommen meine Parzelle nicht. Ihr Angebot ist lächerlich.«
Erdmann zog ein Kuvert aus der Innentasche seines Blazers. »Warten Sie ab, gnädige Frau. Wenn Sie meinen neuen Vorschlag sehen …« Er hielt Blumenstrauß und Umschlag über das brusthohe Tor und fügte hinzu: »Das ist ein Gutschein für einen Luxustag in meiner Wellness-Oase in der Innenstadt. Mein Geschenk für Sie, liebe Frau von Schlittwitz: Lassen Sie sich verwöhnen. Massage, Faltenreduktion durch Akupunktur, Fettabbau durch Tiefenwärmebehandlung …«
Dorabellas Gesicht verfinsterte sich. »Sie meinen also, dass ich das nötig habe?«
Lutz Erdmann lächelte ölig. »Natürlich nicht, gnädige Frau, aber welche Dame von Welt ließe sich nicht gern …«
»Und Sie denken außerdem, dass tote Blumen für die alte Schrapnelle das Richtige sind, um sich an die steife Welt da draußen zu gewöhnen, während ich …«, sie wies mit der rechten Hand auf die üppig blühende Blumenpracht um sich herum, »… das alles hier habe? Sie sind ein sehr dummer Mensch, wenn Sie glauben, dass ich meinen Garten aufgebe.«
Sie schnaubte verächtlich und riss ihm mit einer schnellen Bewegung den Gutschein aus der Hand. Ohne Erdmann eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und humpelte hinter ihr Häuschen.
Erdmann sah ärgerlich auf den verschmähten Strauß. Halsstarrige alte Krähe! Die Blumen hatten ein verdammtes Vermögen gekostet. Warum mussten alte Leute immer so verflucht störrisch sein! Peschmanns wollten doch auch verkaufen, und Angelika Christs Kapitulation lag nur noch ein paar Stunden persönlicher Zuwendung entfernt …
Bei dieser Vorstellung lächelte Erdmann zufrieden. Mit sechs von zwölf Parzellen gehörte die Insel faktisch ihm. Mehr als die Hälfte der Insel. Da wurde es für die anderen schon langsam ungemütlich. Wenn er erst anfing zu bauen, würden sie ihn noch anflehen, ihre Grundstücke zu kaufen – dann aber zu seinen Konditionen.
Im Hochgefühl des Siegers drehte er sich um – und prallte gegen Viktor Hauser und Luis Krawuttke, die sich unbemerkt hinter ihm aufgebaut hatten. Die beiden alten Herren hielten die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre finsteren Gesichter zeigten wilde Entschlossenheit.
Einen Atemzug später fiel der Strauß mit den makellosen Blumen in den märkischen
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