Das Fulcanelli-Komplott (German Edition)
nicht beobachtet habe, dass er Fliegen gegessen hätte», erwiderte Legrand, und alle lachten. «Nichtsdestotrotz ist er ein interessanter Fall, keine Frage. Ein religiöser Fanatiker. Er wurde nicht weit von hier gefunden – in einem kleinen Dorf, von einem Priester. Er verstümmelt sich selbst; sein Körper ist übersät von Narben. Er deliriert über Dämonen und Engel und ist überzeugt, sich in der Hölle zu befinden – oder manchmal auch im Himmel. Er rezitiert ununterbrochen lateinische Phrasen und ist besessen von bedeutungslosen Reihen von Zahlen und Buchstaben. Er kritzelt sämtliche Wände seiner Zelle – pardon, seines Zimmers – damit voll.»
«Warum überlassen Sie ihm dann einen Stift, Dr. Legrand?», wollte Madame Chabrol wissen. «Könnte das nicht gefährlich werden?»
«Sie haben recht, Madame, und das tun wir auch nicht mehr», antwortete Legrand. «Nein, er schreibt sie mit seinem Blut. Mit seinem eigenen Blut, mit Urin und mit Kot.»
Alle starrten schockiert und angewidert zu Legrand – mit Ausnahme von Anna. «Das klingt nach einem furchtbar unglücklichen Menschen», stellte sie fest.
Legrand nickte. «Ja. Ich glaube, damit haben Sie recht.»
«Aber warum sollte jemand den Wunsch verspüren, sich selbst zu verstümmeln , Édouard?», fragte Angélique und rümpfte die Nase. «Das ist ja ganz schrecklich!»
«Rheinfeld zeigt ein stereotypes Verhalten», erwiderte Legrand. «Das heißt, er leidet an etwas, das wir als Zwangsneurose bezeichnen. Chronischer Stress und Frustration können so etwas auslösen. In seinem Fall nehmen wir an, dass die mentale Erkrankung durch die jahrelange und fruchtlose Suche nach etwas ausgelöst wurde.»
«Und wonach hat er gesucht?», fragte Anna.
Legrand zuckte die Schultern. «Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit. Er scheint zu glauben, dass er auf einer Art Suche nach einem verlorenen Schatz war, nach untergegangenen Geheimnissen und dergleichen. Es ist eine verbreitete Wahnvorstellung bei Erkrankten.» Er lächelte. «Wir hatten im Lauf der Jahre eine ganze Reihe unerschrockener Schatzsucher in unserer Obhut. Aber man sollte auch nicht die vielen Patienten vergessen, die sich für Jesus Christus, Napoleon Bonaparte oder Adolf Hitler gehalten haben. Ich fürchte, unsere lieben Kranken sind häufig nicht sehr phantasievoll bei der Auswahl ihrer Wahnvorstellungen.»
«Ein verlorener Schatz», sagte Anna halb zu sich selbst. «Und Sie sagen, dieser Rheinfeld wurde nicht weit von hier gefunden …» Ihre Stimme brach ab, als Anna sich ihren Gedanken hingab.
«Kann man denn überhaupt nichts tun, um ihm zu helfen, Édouard?», fragte seine Cousine.
Legrand schüttelte den Kopf. «Wir haben schon alles unternommen. Als er zu uns kam, versuchten wir es mit einer psychotherapeutischen Behandlung und einer Beschäftigungstherapie. In den ersten Monaten schien er auf die Behandlung zu reagieren. Wir gaben ihm ein Notizbuch, damit er seine Träume aufzeichnen konnte. Doch dann fanden wir heraus, dass er die Seiten mit wahnsinnigem Kauderwelsch vollschrieb. Im Verlauf der Zeit verschlimmerte sich sein Zustand, und er begann von Neuem, sich zu verstümmeln. Wir mussten ihm die Schreibutensilien abnehmen und die Medikamentierung erhöhen. Seit damals ist er, wie ich leider gestehen muss, tiefer und tiefer in dem versunken, was ich nur als Wahnsinn zu bezeichnen vermag.»
«Was für eine furchtbar traurige Geschichte», hauchte Anna.
Legrand wandte sich mit einem charmanten Lächeln ihr zu. «Wie dem auch sei, Anna, Sie wären mehr als willkommen, wenn Sie sich unsere kleine Klinik einmal ansehen möchten. Und wenn es Ihnen helfen würde, Inspiration für Ihren Roman zu finden, könnte ich sogar ein Treffen mit Klaus Rheinfeld einrichten. Selbstverständlich unter strenger Aufsicht. Er bekommt niemals Besuch. Doch man kann nicht ausschließen, dass es ihm vielleicht guttun würde.»
Kapitel 31
Paris
Für Luc Simon flogen die Puzzlesteine förmlich an ihren Platz. Die Beschreibung, welche die beiden äußerst verlegenen Beamten von dem Mann ablieferten, der sie in Roberta Ryders begehbaren Kleiderschrank verfrachtet hatte, passte exakt auf Ben Hope.
Anschließend war der Bericht von dem «Beinahe-Zugunglück» hereingekommen. Der schwarze Mercedes war heiß wie die Hölle. Kein registrierter Besitzer. Falsche Nummernschilder, die Motor- und Fahrgestellnummern hatte man entfernt. Die Zentralverriegelung war manipuliert worden – es sah aus, als
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