Das gebrochene Versprechen
Lied
geschehn.«
»Hm.«
»Was heißt das?«
»Komischerweise weiss ich’s
tatsächlich. Aber eh ich dir sage, wo das her ist, will ich wissen, warum du
versuchst, mir was vorzumachen.«
»Vorzumachen?«
»Dass das eine banale kleine
Quizfrage ist.«
»Ist es doch.«
»Ist es nicht. Ich erinnere
mich nur zu gut an deinen Ton, wenn du lügst. Dann rutscht deine Stimme ein
bisschen hoch, nur ganz wenig, aber genug. Versuch nie jemanden zu täuschen,
der das absolute Gehör hat, Sharon.«
Noch jemand, der mich
schlichtweg durchschaute. »Okay«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Kannst du das
für dich behalten?«
»Du weißt, dass ich’s kann.«
Ich studierte sein Gesicht,
dachte an unsere guten Zeiten und an all die Male, die ich ihm vertraut hatte.
Und erzählte ihm dann von den Briefen, Rickys neuem Label und der
bevorstehenden Tournee.
Don hörte nachdenklich zu und
drehte den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingerspitzen hin und her. »Ich
bin ganz deiner Meinung«, sagte er. »Savage hat allen Grund, wegen dieser
Briefe beunruhigt zu sein. Warte, ich spiele dir den Song vor, aus dem die
Textzeile stammt.«
»Du hast eine Aufnahme?«
»Hm.« Er ging zu einem Regal
voller Schallplatten, CDsund
Kassetten und suchte das oberste Fach durch. »Seit kurzem sammle ich
Folkballaden — frühe Sachen aus dem südlichen Bergland. Es gibt da eine Frau
aus Bakersfield, die ein paar interessante Versionen gebracht hat.« Er fischte
eine cd heraus und ging damit zu
seiner Anlage.
Dons Interessenspektrum
verblüfft mich immer wieder. Trotz einer langen Karriere als dj bei diversen schrillen und schrägen
Musiksendern ist er eigentlich Klassikpianist, Absolvent der Eastman School of
Music. Seine Vorlieben umfassen so ziemlich alles außer Rap und Heavy Metal,
und er gesteht fröhlich, einen guten Teil seines Lebens damit zu verbringen, telefonische
Plattenwünsche dumpfbackiger bis hirnamputierter Teenager entgegenzunehmen, sei
nur ein Mittel, seine wahren Leidenschaften zu finanzieren.
Er legte die cd ein und setzte sich wieder zu mir.
»Der Song heißt ›My Mendacious Minstrel‹. Die Sängerin ist Arletta James.«
Eine eindringliche Stimme
erklang zu schlichter Gitarrenbegleitung. Sie erfüllte das Loft, rein und klar,
und hatte etwas, das mir durch und durch ging. Der ergreifende Text verstärkte
diese Wirkung noch — zumal der Schmerz hinter den Worten so überzeugend
herüberkam. Die Ballade erzählte eine lange Geschichte — so alt wie die Welt
und so schaurig wie ein Eishauch.
Eine Frau, die in den Bergen
umherwandert, auf der Suche nach den süßen Beeren, die dort in der Sommersonne
wachsen. Ein fahrender Musikant, der ebenfalls dort herumzieht, die selbst
gebaute Fiedel auf dem Rücken. Eine Zufallsbegegnung auf einer Lichtung, eine
Leidenschaft, die sein Spiel und seinen Gesang entflammen. Und das Versprechen,
dass er ein Lied nur für sie verfassen wird. Und dieses Lied, das er mir
schenkt, wird wie kein andres sein. Weitere heimliche Treffen auf der
Lichtung, weitere Sommertage, so heiß wie ihrer beider Verlangen. Aber noch
immer hat der Spielmann sein Versprechen nicht erfüllt.
Wann endlich singt er mir mein
Lied; das Lied für mich allein ?
Ein Herbsttag: Der Spielmann
erscheint nicht auf der Lichtung. Die Frau wartet vergebens. Sie kommt Tag für
Tag wieder, bis Schnee liegt und das neue Leben, das in ihr keimte, stirbt.
Wo ist das Kind, das ich von ihm
empfing, bevor er schied ?
Was ist mit meinem Lied
geschehn, mit dem versprochnen Lied ?
Die Frau macht sich auf und
gelangt in eine Stadt, wo die vornehmen Häuser der Wohlhabenden auf einer
Felsklippe stehen. Dort findet sie ihren untreuen Spielmann, bei seiner Frau
und seinen Kindern. Verzweifelt kehrt sie in die Berge zurück und wandert den
ganzen Winter rastlos herum. Als die Bäume Knospen treiben und im Gras die
ersten Narzissen sprießen, sucht sie nach dem gelben Jasmin.
Es wohnt der Tod in seinem Grün,
in seinen Blüten fein.
Die Frau bereitet einen
Gifttrank und nimmt für immer Abschied von den Bergen. Sie erschleicht sich
eine Stellung im Haus des Spielmanns und übt Rache.
Sie ahnen nicht den bösen Plan,
und eh sie sich’s versehn,
rührt sie die Hand des Todes
an, ist es um sie geschehn.
Während sie selbst den letzten
Rest des Gifttranks trinkt, denkt sie noch einmal an die Lichtung in den
Bergen, an das verlorene Kind und die Lügen des Spielmanns.
Was ist mit meinem Lied
geschehn, mit dem versprochnen
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