Das gebrochene Versprechen
einmal der Fahrtwind vermochte meinen
weinbenebelten Kopf freizublasen. Ich parkte in der Nähe von Pier 32, wo das
denkmalgeschützte Kriegsschiff SS Jeremiah O’Brien liegt, und eilte den
Bürgersteig entlang, zu dem niedrigen grauen Schuppen, der Miranda’s Diner
beherbergt.
Das Miranda’s ist, wie auch
Red’s Java House und das Boondocks, ein Relikt jener Zeiten, da unsere Piers
tatsächlich noch dem Laden und Löschen von Frachtgut dienten und der
Schauermann der König der Kais war. Das alles ist jetzt verschwunden, ebenso
wie die Seemannsunterkünfte und — kneipen, die Heuerbüros und Tätowierstuben.
Stattdessen ragen hier jetzt Apartmentkomplexe und Bürohochhäuser in den
Himmel. Der Embarcadero, einst überfüllt mit schwer beladenen Lastzügen und
Eisenbahnwaggons, ist jetzt ein breiter Boulevard mit einer Reihe schmucker,
neu gepflanzter Palmen in der Mitte. Statt der alten Belt-Railway-Gleise führen
jetzt Straßenbahnschienen den Mittelstreifen entlang; wenn die
Straßenbahnverbindung fertig ist, wird sie Fahrgäste von South Beach zur Muni
Metro unter der Market Street transportieren. Nur einige wenige in Betrieb
befindliche Piers und die kleinen Imbisskneipen am Wasser erinnern noch daran,
was dieser Hafen einmal war, und niemand weiß, wie lange sie sich den Kräften
des Wandels noch werden widersetzen können.
Vor einiger Zeit hatte ein
Klient von mir den grandiosen Plan, einen Teil unserer Hafengegend in seiner
ursprünglichen Funktion zu erhalten. Er wollte das ehemalige Marinewerftgelände
von Hunters’ Point in ein Megaterminal für eine der altehrwürdigen Reedereien
der Stadt umwandeln. Der Plan war, wie sich herausstellte, durchaus realistisch
und hätte der Geschichte San Franciscos eine andere Wende geben können. Aber
dann hatten tragische Ereignisse sein Leben überschattet, seine Financiers
hatten ihre Zusagen zurückgezogen, und am Ende hatte er befunden, dass ihm die
Erhaltung dessen, was ihm im persönlichen Bereich noch blieb, wichtiger war als
die Erhaltung des Hafens. Es war die richtige Entscheidung gewesen, aber ich
dachte immer noch ab und zu an sein Projekt und daran, was es für uns alle
hätte bedeuten können. Ich drückte die Tür des Miranda’s auf, trat ein und
winkte Carmen Lazzarini, dem Inhaber, zu. Ich hatte keine Ahnung, wie der
bullige, kahlköpfige Mann tatsächlich mit Vornamen hieß; seit den Zeiten, da er
als Schauermann südamerikanische Bananendampfer entladen hatte, lief er unter
dem Namen Carmen. Wenn jemand nach der Geschichte dieses Spitznamens fragte,
sagte er: »Carmen Miranda — klar?«, und vollführte ein kleines Tänzchen, die
Arme erhoben, als stützte er einen früchtebefrachteten Hut. Ich wusste nicht
mehr über ihn, als dass er grässliche panierte Schnitzel und phantastische Burger
produzierte und dass sein »Java« wie ein Adrenalinstoß wirkte. Nur diese
wenigen Dinge, und dass hinter der fleckigen Schürze und dem schroffen Gehabe
ein gutes und großmütiges Herz schlug.
Carmen musterte mich und griff
nach der Kaffeekanne; ich sah offenbar aus, als bräuchte ich dringend einen
Schuss Koffein. Auf dem Weg zum Tresen entdeckte ich Rae Kelleher in einer der
Sitznischen an den salzschlierigen Fenstern zur Bay und signalisierte Carmen,
dass ich mich dorthin setzen würde. Als ich auf die freie Sitzbank schlüpfte,
katapultierte Carmen bereits einen weißen Keramikbecher vor mich hin.
»Kleine Aufwachhilfe?«, fragte
Rae.
»Ja. Wie geht’s?«
»Mittelprächtig. Ich habe die
beiden Akten erledigt, die du mir heute Morgen gegeben hast, liegen auf deinem Schreibtisch.«
»Danke. Bereit für die
Überraschung?«
»Welche Überraschung?«
»Aha! Du versuchst es mit
paradoxer Intervention.« Rae hatte in Berkeley Psychologie studiert und hegte
immer noch ein paar Lieblingstheorien über das menschliche Verhalten, trotz aller
schlagenden Beweise dafür, dass solche Regeln dazu da waren, gebrochen zu
werden.
»Ich will gar nicht, dass du’s
mir verrätst«, sagte sie. »Mein Leben ist sowieso schon so überraschungsarm.«
Ihre Stimme war tonlos, und ihr rundes, sommersprossiges Gesicht zeigte keine
Spur ihrer sonstigen Fröhlichkeit.
»Du wirkst dieser Tage etwas
down.«
»Dieser Tage? Wie wär’s mit ›im
letzten halben Jahr‹? Mir erscheint alles so fad und schal. Ich habe nicht mal
mehr Tagebuch geschrieben.«
Rae war eine begeisterte Leserin
dessen, was sie »Bumsschmonzetten« nannte, und kündete oft scherzhaft an,
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