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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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hatte, mit einem Schlag decken. Auch das Haus, das er andernfalls früher oder später verkaufen musste, würde er behalten können. Den Rest des Geldes würde er keinesfalls verschleudern, denn auf Luxus legte er keinen Wert. Er würde es in eine möglichst sichere Anlage investieren – für Justins spätere Ausbildung. Dass der Junge trotz aller Verleumdungen seiner Mutter zu ihm hielt, rührte Bringshaus tief. Justin war alles, was ihm noch geblieben war.
     
    Justin   …
     
    Der Gedanke an seinen Sohn holte ihn in die Realität zurück. Widerstrebend durchstieß er die unsichtbare Membran, die ihn bedeckte, atmete, blinzelte in der Dunkelheit, vernahm undeutliche Geräusche.
    Wo ist mein Sohn?
    Vage erinnerte er sich, dass seine Umgebung das Innere einer Höhle war – kein tiefes Wasser, kein sternenloser Weltraum. Vor wenigen Minuten noch hatte er Justins Stimme gehört. Der Junge war gerettet worden – oder nicht? Hatte nicht die Höhlenforscherin ihn mitsamt seiner Freundin in Sicherheit gebracht und danach auch ihn, Bringshaus, aus der Schlammgrube gezogen? Oder waren das nur letzte Visionen eines Sterbenden gewesen, ein kläglicher Versuch seines Gehirns, den nahen Tod durch eine tröstliche Illusion zu versüßen?
    Schritte hasteten an ihm vorbei. Diesmal hörte er es deutlich. Dann eine Stimme, weiter entfernt, doch unverkennbar drohend: «Es wird hell! Bald kann ich dich sehen   … komm lieber gleich heraus!»
    Böttcher.
Bringshaus erkannte seine Stimme – und verfluchte den Tag, an dem er zum ersten Mal auf sie gehört hatte. Seine Wahrnehmungen wurden deutlicher, die Erinnerungslücken schlossen sich. Stundenlang musste er in der Schlammgrube festgesteckt haben, halb versunken in der schwarzen Brühe, zwischen verrotteten Kadavern. Und was seinen Komplizen betraf, so hatte dieser keinen Finger zu seiner Rettung gerührt. Stattdessen hatte er seelenruhig neben der Grube gesessen – und auf Tia gewartet.
    Tia   …
nun erinnerte sich Bringshaus, auch ihre Stimme gehört zu haben, erst vor wenigen Minuten. Sie war noch immer im Raum, ebenso wie Böttcher. Doch was ging vor sich?
    Er will seine Mitwisser beseitigen, dachte Bringshaus. Diese Frau   … und mich.
    Mit plötzlicher Entschlossenheit kämpfte er gegen die Wirkung des Giftes an, das seine Glieder lähmte und ihn in die trügerische Ruhe des Schlafs zurückziehen wollte. Seine Finger regten sich mühsam, er tastete, spürte kalten Steinboden, den Rand der Grube. Angestrengt starrte er ins Dunkel, auf der Suche nach irgendeinem Fixpunkt, an dem sich sein schwankendes Bewusstsein festigen konnte.
    Und er sah Licht – nicht den grellen Schein einer Lampe, auch nicht das Blinken eines Sterns, sondern einen fahlen Schimmer in der Finsternis. Draußen graute der Morgen, und sein schwacher Abglanz fiel durch die Schachtöffnung wie eine senkrechte Säule in die Höhle. Wieder war das Geräusch hastender Schritte zu hören.
    «Ich sehe dich!», schrie Böttcher triumphierend.
    Es gelang Bringshaus, den Kopf zur Seite zu drehen – eben rechtzeitig, um einen Schemen aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Die Erscheinung verdichtete sich zu einer schlanken Gestalt mit wehendem Haar, die auf die Grube zulief. Ein rasches, rhythmisch schnalzendes Geräusch ging von ihr aus. Es musste Tia sein.
    «Jetzt!», schrie sie.
    Grelles Licht flammte auf, irgendwo hinter Bringshaus’ Rücken. Geblendet kniff er die Augen zusammen, während die Gestalt nah an ihm vorbeilief – einer ihrer Füße setzte knapp neben seinem angewinkelten Arm auf – und in hohem Bogen über die Grube hinwegsprang. Bringshaus blinzelte und sah eine zweite Gestalt auftauchen, der ersten auf den Fersen, in der rechten Hand einen schweren Stein, mit der linken die Augen beschattend. Hartmut Böttcher schnaufte wütend, denn das grelle Licht war genau auf sein Gesicht gerichtet.
    Das Geschehen schien sich auf seltsame Weise zu verlangsamen. Bringshaus’ Geist, noch vor Minuten in wirren Träumen gefangen, erfasste binnen eines Augenblicks die Situation.
    Er kann die Grube nicht sehen, begriff er. Er ist geblendet!
    Wie in Zeitlupe sah er Böttcher näher kommen, spürte förmlich die Erschütterungen des Bodens, die von seinen Schritten ausgingen. Noch drei Schritte, noch zwei – nun war er unmittelbar neben Bringshaus. Beim nächsten Schritt würde er den Rand der Grube erreichen. Der schwarze Schnürschuh setzte auf, mit der Ferse noch auf festem Boden, mit dem vorderen

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