Eine Frage der Zeit
Velten & Marcks: Eine Frage der Zeit
Rothaar stand mutterseelenallein am Rand des großen Parkplatzes. Die Leuchtreklamen des Supermarktes, vor dem er wartete, brannten um diese Zeit längst nicht mehr. Nur ein paar Straßenlaternen warfen ein diffuses Licht auf den grauen Asphalt. Er fluchte leise, denn auch jetzt, mitten in der Nacht, war es noch drückend heiß und sein T-Shirt klebte ihm am Körper. Den ganzen verdammten Weg von der Innenstadt bis zu diesem Parkplatz war er zu Fuß gelaufen. Er verfluchte sich dafür, dass er selbst diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte.
Ein Fahrzeug näherte sich. Er drückte sich in eine Nische zwischen einem widerlich stinkenden Müllcontainer und einer Parkbox für Einkaufskarren. Argwöhnisch beobachtete er den Wagen, der jetzt langsam in seine Richtung fuhr. Durch die geöffneten Autofenster drangen wummernde Bässe und das ausgelassene Lachen mehrerer Frauen oder Mädchen. Der Fahrer bremste abrupt, ließ den Wagen ein paar Meter rollen und beschleunigte ihn dann urplötzlich mit durchdrehenden Reifen. Er steuerte sein Auto in einem irren Tempo und mit wimmernden Pneus zweimal um den Kreisverkehr in der Mitte des Parkplatzes. Die Mädchen kreischten und nun war auch raues Männerlachen zu hören. Wahrscheinlich irgendwelche Idioten auf einer Spritztour, vermutlich besoffen oder bekifft, dachte Rothaar. Der Wagen drehte eine letzte Runde um den Kreisel und fuhr dann mit aufheulendem Motor davon.
Es wurde wieder still. Er wartete weitere zehn Minuten, in denen nichts zu hören war außer dem monotonen Zirpen der Grillen aus dem wuchernden Unkraut am Rand des Parkplatzes. Doch dann sah er die Scheinwerfer eines Autos, das in gemächlichem Tempo auf den Parkplatz rollte. Schemenhaft waren die dunklen Umrisse eines großen Kombis zu erkennen. Der Fahrer hielt mitten auf dem Kreisel und stellte den Motor ab. Das musste er sein!
Rothaar trat aus dem Schatten des Supermarktes hervor und stellte sich in den Leuchtkreis einer Straßenlampe. Der Fahrer des Wagens musste ihn jetzt sehen können. Tatsächlich dauerte es nur wenige Sekunden, bis er den Motor wieder anließ. Der Kombi setzte sich in Bewegung und kam langsam auf ihn zu. Direkt neben der Laterne blieb er stehen. Das Seitenfenster surrte herunter.
„Lange nicht gesehen “, sagte der Mann.
„Ja, ist fast drei Jahre her“, antwortete Rothaar und starrte mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch durch das Fenster. Die Autotür öffnete sich und der Fahrer stieg aus. Jetzt war er besser zu erkennen. „Scheiße, wenn ich deine Stimme nicht wiedererkannt hätte...“
Der Mann lachte. „Menschen ändern sich auf die eine oder andere Weise. Nur du nicht. Du siehst immer noch aus wie ein magersüchtiges Frettchen.“
Rothaar ging nicht auf die Beleidigung ein: „Hast du die Kohle?“
Der Mann öffnete die hintere Tür und holte eine Plastiktüte aus dem Wagen. „Fünfzig große Scheine willst du haben, sagte unsere gemeinsame Freundin. Eine Menge Geld.“
„Fünfzigtausend tun dir nicht weh. Der Verkauf der Bilder hat dir doch Millionen eingebracht.“
„Stimmt“, lachte der Mann und warf Rothaar die Tüte zu. Der fing sie ungeschickt auf. „Trotzdem werde ich mich kein zweites Mal von dir erpressen lassen, verstanden? Und jetzt zähl’ besser nach. Ich will nicht die ganze Nacht auf diesem gottverdammten Parkplatz herumstehen.“
Rothaar griff in die Tüte und fühlte die losen Scheine. Er zog eine Handvoll heraus. „Was zum Teufel...?“ In seinen Fingern hielt er nichts weiter als wertlose Zeitungsfetzen. Noch während er das Altpapier in seiner Hand anstarrte, traf ihn das Messer zum ersten Mal. Die Klinge kam von der Seite und fuhr mit brutaler Gewalt durch seinen linken Bizeps und in seine Brust. Rothaar taumelte zur Seite. Schützend riss er die Arme hoch: „Bist du verrückt? Das kannst du doch nicht...“, schrie er in panischer Angst, als ihn auch schon der nächste Stich in den Bauch traf. Glühende Schmerzen breiteten sich explosionsartig in seinen Eingeweiden aus. Er krümmte sich und stolperte ein paar Schritte nach hinten. Doch der Angreifer setzte ihm unerbittlich nach und rammte das Messer wieder und wieder in sein Opfer. Schließlich brach Rothaar zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.
Sein Mörder sammelte seelenruhig die Papierschnipsel auf, die auf den dreckigen Asphalt gefallen waren, und stopfte sie wieder in die Tüte. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr ohne Eile
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