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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Enden hafteten überall, wo nackte Haut freilag.
    «Es ist unglaublich», sagte sie ins Mikrophon, während sie sich mühte, das Gesicht des Verunglückten von den Flechten zu säubern – es fühlte sich an, als schere sie ihm einen besonders widerspenstigen Bart. «Dieses Geflecht ist in die Haut des Jungen eingewachsen.»
    «Hast du irgendeine Idee, was es ist?», fragte Leon.
    Tia nickte, noch bevor sie antwortete, und bemühte sich, den naheliegendsten Schluss zu formulieren.
    «Ich glaube, dass es sich um einen Pilz handelt.»
    «Einen
Pilz?
», fragte Leon ungläubig.
    «Nichts anderes kommt in Frage. Pflanzen können nicht im Dunkeln wachsen, und Höhlenspinnen weben keine Netze dieser Größe. Die wattige Struktur würde auf einen Schimmelpilz hindeuten, aber ich finde auch dickere Fäden vom Umfang eines Schnürsenkels, wie man sie von Holzpilzen kennt.»
    «Kannst du Fruchtkörper tasten?»
    «Nein. Wahrscheinlich befindet sich dieser Pilz nicht im Fortpflanzungsstadium. Sonst wäre die Luft so voller Sporen, dass ich es riechen könnte. Trotzdem sollte der Notarzt Maßnahmen gegen eine systemische Mykose treffen.»
    «Aber das ist doch unmöglich!», mischte sich eine fremde Stimme in das Gespräch. Tia erkannte den Notarzt. «Der Junge ist keine zwei Stunden dort unten, und ein Pilz wächst nicht mit solcher Geschwindigkeit!»
    «Ich weiß, wie verrückt das klingt», sagte Tia, während sie die Büschel durchschnitt, die sich quer über Finns Brust zogen. «Aber ich finde keine andere Erklärung. Die Fäden haften an der Haut, genau wie Hyphen auf einem Substrat. Ich kann nur hoffen, dass sein Körper die eingewachsenen Enden abstößt.Vielleicht sollten Sie uns eine Ladung Amphotericin runterwerfen, nur zur Vorbeugung.»
    «Auf keinen Fall!», wehrte der Notarzt ab. «Nicht, bevor eine sichere Diagnose gestellt ist!»
    «Wie Sie meinen.» Tia trennte die letzten Fäden durch und schob eine Hand unter Finns Hemd, um Bauch und Brustkorb zu betasten. «Die inneren Organe scheinen in Ordnung zu sein. Kein Abdominaltrauma, keine Rupturen, jedenfalls kann ich nirgends Abwehrspannung tasten. Lunge und Herz klingen einwandfrei. Haben Sie eine Vakuumschiene da?»
    «Natürlich», antwortete der Notarzt.
    «Und eine feste Unterlage mit Gurten?»
    «Ich habe ein Spineboard.»
    «Sehr gut. Schicken sie mir beides herunter! Ich werde sein Bein fixieren, und dann können Sie ihn hochziehen.»
    «Glauben Sie denn, dass er bewegt werden kann? Was ist, wenn er eine Wirbelsäulenverletzung hat?»
    «Hat er nicht», sagte Tia, die vorsichtig eine Hand unter Finns Nacken gelegt hatte. «Alle Wirbel sind an ihrem Platz.»
    «Das können Sie doch gar nicht wissen!», ereiferte sich der Notarzt.
    «Ich kann es fühlen. Vertrauen Sie mir einfach! Vielleicht wissen Sie, dass man blinde Frauen für Tastuntersuchungen in der Brustkrebs-Vorsorge einsetzt – sie finden Tumore sicherer als die Mediziner.»
    «Na schön», lenkte der Notarzt ein. «Aber wenn er doch eine Rückenverletzung hat, muss ich klarstellen, dass ich keine Verantwortung übernehme.»
    Tia schnaubte ärgerlich. «Okay. Schicken Sie mir die Rechnung, wenn Sie wollen! Leon, hörst du mit?»
    «Ich bin hier», meldete sich ihr Partner.
    «Mach das Seil nicht an den vordersten Ösen des Boardsfest, sondern mehr in der Mitte! Dann müsste es von selber in die Waagerechte kippen, wenn der Junge die Schachtöffnung erreicht.»
    «Okay.»
    Tia wartete, bis ein zweites Seil herabgelassen wurde, an seinem Ende das Spineboard, eine leichte Trage aus unverwüstlichem Kunststoff. Zwischen den Gurten steckte die Vakuumschiene, deren Anwendung Tia aus diversen Erste-Hilfe-Kursen vertraut war. Als sie die flexible Matte um Finns Bein legte und den Klettverschluss schloss, stöhnte der junge Mann leise. Rasch bediente sie die Vakuumpumpe, die sämtliche Luft aus der Matte saugte, sodass die Kügelchen darin sich zu einer festen Masse verdichteten und das gebrochene Bein umschlossen. Dann schob sie eine Hand unter Finns Hüften, um ihn vorsichtig auf die Seite zu drehen. Sein Atem beschleunigte sich bei dieser Bewegung, stockte und ging in ein stimmhaftes Keuchen über.
    Er wacht auf, dachte Tia. Armer Kerl – ich hätte es ihm gegönnt, die Schmerzen zu verschlafen.
    «W-was   …?», stammelte er gepresst.
    «Finn?» Tia nahm behutsam seinen Kopf in beide Hände. Es war wichtig, dass er die Wärme einer Berührung spürte, denn das Erwachen in Kälte, Dunkelheit und

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