Das Geflecht
ein Stockwerk höher, fünfzig Meter geradeaus den Gang hinunter. Die Tür ist unverschlossen, und es steht einiges an altem Werkzeug herum. Allerdings dürfte es schwierig sein, das Ventil zu öffnen – vermutlich ist es völlig verrostet.»
«Das lass mal meine Sorge sein», meinte Böttcher zuversichtlich. «Zur Not greife ich mir eine Spitzhacke und schlage ein Loch in diesen Tank.»
«Aber nur ein kleines!», warnte Bringshaus. «In dem Ding könnten immer noch zwanzigtausend Liter sein, und es darf nur langsam auslaufen. Schließlich wollen wir hier unten keine Sintflut in Gang setzen.»
«Ich mach das schon.» Böttcher wandte sich um und ergriff die Sprossen der Leiter. «Geh du inzwischen zurück zu den anderen! Man wird dich schon vermissen.»
••• 21 : 26 ••• DANA •••
Es war kalt. Es war feucht. Und es war stockdunkel.
Danas Geist war davongeschwebt, irrte durch ferne Tiefen, füllte sich mit Bildern. Sie war wieder sieben Jahre alt, ein kleines, pummeliges Mädchen mit rotblonden Locken und großen, schüchternen Augen, die stets mit einem Ausdruck banger Besorgnis in die Welt blickten.
Wie stets hatte sie den Nachmittag allein verbracht und darauf gewartet, dass ihre Mutter von der Spätschicht heimkam. An jenem Tag jedoch war Ludmila Novak länger ausgeblieben als sonst, und gegen acht Uhr, als es draußen bereits dunkel war, wagte Dana sich in den Keller hinunter, um eine Flasche Limonade aus der Vorratskammer zu holen. Normalerweise ging sie nie allein in den Keller, denn der unübersichtliche, halb mit Gerümpel zugestellte Raum machte ihr Angst. Diesmal jedoch war ihr Durst größer als ihr Unbehagen, und so öffnete sie die schwere Tür, die schmatzend hinter ihr ins Schloss fiel, schaltete das Kellerlicht ein und schlich sich beklommen die steinerne Treppe hinab.
Wovor sie sich eigentlich fürchtete, hätte Dana nicht zu sagen gewusst. In den Keller zu gehen gehörte nicht zu den «gefährlichen» Dingen, vor denen ihre Mutter sie ständig warnte. «Gefährlich» war vieles, zum Beispiel in der Schule aufs Klo zu gehen, ohne sich nachher die Hände mit einem Desinfektionstuch abzureiben, oder etwas zu essen von Fremden anzunehmen, selbst wenn es Kinder aus Danas Schulklasse waren. Gefährlich war außerdem, auf der Straße den Blick zu heben und Leuten ins Gesicht zu sehen, vor allem Jungen und erst recht ausgewachsenen Männern. Danas Mutter wiederholte fast täglich, dass es
böse Männer
gebe, die ein kleines Mädchen nicht auf sich aufmerksam machen dürfe. Sie ließ offen, welche Gefahr von diesen Männern drohte, und Dana wagte nicht zu fragen. In ihrer Phantasie jedoch hatte sich allmählich die ganze Welt mit bösen Männern bevölkert, die überall lauern konnten: Auf der Straße, im Wald hinter der Vorstadtsiedlung, sogar im Treppenhaus der dreistöckigen Mietskaserne, in deren Erdgeschoss die Wohnung lag.
Im Keller gibt es keine bösen Männer, versuchte sie sich zu beruhigen, während sie sich quer durch den schummrig beleuchtetenRaum tastete, der nur ein einziges, von Staub und Schmutz erblindetes Souterrainfenster besaß. Sie kam bis zur Vorratskammer und streckte eine Hand nach dem Lichtschalter aus, der gewöhnlich eine nackte Glühbirne hinter der hölzernen Tür aufflammen ließ. An diesem Tag jedoch wurde der Griff ihr zum Verhängnis: Nur für einen Sekundenbruchteil glühte die Lampe auf, dann gab es einen lauten Knall, gefolgt vom Rieseln feiner Glassplitter, und in der gesamten Wohnung gingen die Lichter aus.
Dana erstarrte, als hätte man ihren Körper in Eiswasser getaucht. Sie verstand, dass die Glühbirne durchgebrannt war, und erinnerte sich dunkel, dass man einen Stromausfall an einem bestimmten Ort im Flur beheben konnte, den ihre Mutter «Sicherungskasten» nannte. Doch der Gedanke, den Weg durch den Keller, die Treppe hinauf und quer durch die Wohnung im Stockdunkeln zurückzulegen, verwandelte ihre Angst in nacktes Grauen. Aus allen Winkeln erhoben sich plötzlich unsichtbare Schatten, kriechende, tastende, hungrige Wesen, die nur aus Schwärze und Stille bestanden. Ihre vielfingrigen Gliedmaßen wuchsen wie Tentakel quer durch den Raum, verschlangen sich zu einem dichten Gewebe und umfingen das Mädchen, dass sich wie gelähmt an die Wand drückte, mit einem würgenden Netz.
Panik ergriff Dana. Noch immer war sie nicht in der Lage, ihren Halt an der Wand aufzugeben, doch gelang es ihr schließlich, die Finger zu bewegen und nach
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