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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Tia, die seine Worte gehört hatte, während sie ein Headset für den Grubenfunk und darüber einen Helm ohne Lampe aufsetzte.
    Der Notarzt erbleichte. Zweifellos hatte er nicht die geringste Erfahrung damit, unbekannte Hohlräume in sechzig Meter Tiefe zu erkunden oder sich durch enge Felsschächte zu zwängen. «Ich meinte ja nur   …»
    «Schon gut.» Tia nahm ihre dunkle Brille ab. «Machen Sie Ihren Job – ich mache meinen.»
    Erstaunt bemerkte Bringshaus, dass ihre Augen keine Spur einer Erkrankung zeigten. Anfangs hatte er geglaubt, die Brille verberge eine Verunstaltung, etwa ein Glaukom oder eine milchig getrübte Linse. Nun jedoch stellte er fest, dass Tia Traveens Augen völlig normal wirkten, hellbraun und mit samtschwarzen Pupillen.
    «Ihre Augen   …» Trotz der angespannten Situation konnte er die Bemerkung nicht zurückhalten. «Sie sehen so   … gesund aus.»
    «Das sind sie auch», sagte Tia, während sie ihr Rückengepäck schulterte. «Nur meine Sehnerven sind zerstört. Können wir, Leon?»
    Sie stieg in den Hüftgurt und zog die Beinschlaufen fest, während Leon den Karabiner auf Nabelhöhe einhakte und das Sicherungsseil ergriff. Dann ging sie in die Knie, ertastete den Rand des Schachtes und ließ sich hineingleiten.
    «Und abwärts!»

••• 20   :   58 ••• TIA •••
    Der Schacht neigte sich in einem Winkel von sechzig Grad und war so schlüpfrig wie eine Wasserrutsche. Tia begriff sofort, dass es keinen Zweck hatte, klettern zu wollen. Stattdessen drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich langsam hinabgleiten, die Bremshand am Seilzug. Die Reibung blieb erträglich, denn der feuchte Film auf der Oberfläche des Gesteins ließ ihren Körper wie auf Seife schlittern.
    Ihre Haut empfing eine Unmenge an Sinneseindrücken und bildete jede geringfügige Unebenheit des zylindrischen Schachtes ab. Der modrige Geruch, der zu ihr emporstieg, war für sie weit weniger unangenehm als für andere Menschen, denn sie konnte ihn mühelos in seine Bestandteile zerlegen. So atmete sie tief und gab sich ganz ihren Sinnen hin, die nicht mehr vom Wirrwarr der Zivilisationsgerüche und -geräusche beeinträchtigt wurden: Hier rauschte keine Heizung, keine Uhren tickten, keine Klimaanlagen summten, und auch der allgegenwärtige Geruch von Reinigungsmitteln, der die Räume der Tagwelt beherrschte, fehlte. Tia war in ihrem Element. Hier unten gab es nur sie – und die Tiefen der Erde.
    «Grubenfunk: Test», drang Leons Stimme aus dem Headset an ihrem Ohr.
    «Alles bestens», antwortete Tia. «Ich höre dich klar und deutlich.»
    «Schon irgendwelche Erkenntnisse?»
    «Ja. Ich kann korrodiertes Metall und Holz riechen – wahrscheinlich Abfälle, Balken und alte Fässer, wie Bringshaus vermutet hat. Außerdem steigt einiges an Schwefelverbindungen zu mir hoch, aber in ungiftiger Konzentration. Was den dominierenden Geruch betrifft, diese leicht modrige Note   …»
    «Ja?»
    «Ich glaube, es ist Geosmin, jedenfalls ein biogener Alkohol.»
    «Das deutet auf Fäulnisprozesse hin, nicht wahr?»
    «Am ehesten auf hyphenbildende Mikroorganismen, speziell Streptomyceten oder Pilze.»
    «Gefahr beim Einatmen?»
    «Nicht bei intaktem Immunsystem, denke ich. Vielleicht sind ein paar Sporen in der Luft, aber deswegen greife ich nicht gleich zum Atemfilter.»
    «Na gut – du bist der Boss.»
    Tia musste lächeln über diese Formulierung, die er nicht selten benutzte. Währenddessen fühlte sie, dass sie sich dem Ende des Schachts näherte, und verlangsamte ihr Tempo. Als ihre Füße ins Leere hinausglitten, stoppte sie und rollte sich auf den Bauch.
    «Ausstieg. Ich habe die Schachtöffnung erreicht.»
    Vorsichtig ließ sie sich weiter hinab, bis ihre Beine frei in der Luft hingen. Dabei nahm sie deutlich wahr, dass der Schacht in einen umfangreichen Hohlraum mündete. Mehrere hundert Kubikmeter kalter Luft bildeten eine kompakte Masse, die ihren Körper umfloss wie träges Wasser, sich bei der Berührung mit ihrer Haut erwärmte und langsam aufwärts stieg. Kleine Wirbel fächelten über ihre Schienbeine, bewegten die winzigen Vellushärchen der Haut und zeigten eine schwache Luftzirkulation an.
    Tias Körper glitt aus der Schachtöffnung und schwebte nun in einer leicht nach hinten geneigten Sitzposition. Als sie die Beine streckte, berührten die Spitzen ihrer Stiefel eine senkrecht abfallende Wand. Langsam drehte sie sich um sich selbst und schnalzte mit der Zunge, regelmäßig wie ein

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