Das Geflecht
Metronom, im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags. Der Klang veränderte sich deutlich, je nach den Reflexionsbedingungen der Umgebung:Nahe Hindernisse warfen ein kurzes, stumpfes Echo zurück, ferne Wände einen klingenden Widerhall, gesättigt von den Bewegungen der dazwischenliegenden Luft. Tia sah den Raum deutlich vor sich: Ihr Geist bildete ihn ab, konstruierte ihn, baute ihn auf wie aus Pixeln, die keine Farbinformationen, sondern lediglich Schwingungen verzeichneten.
«Ich befinde mich am schmaleren Ende einer linsenförmigen Höhle, etwa vierzig Meter lang und fünfzehn Meter breit. Die Seitenwände sind stark zerklüftet. Der Boden ist viel näher, als Herr Bringshaus vermutet hat, denn direkt unter mir türmt sich ein kegelförmiger Hügel bis auf wenige Meter unterhalb der Decke. Wahrscheinlich besteht er aus all den Abfällen, die im Lauf der Zeit hier herabgeworfen wurden.»
«Und das alles kann sie nur an den Bewegungen der Luft ablesen?», hörte Tia Bringshaus flüstern, der offenbar gespannt mithörte.
«Irgendein Zeichen von unseren beiden Vermissten?», fragte Leon, der ihn ignorierte.
«Augenblick …» Tia winkelte die Knie an, als sie den Boden näher kommen fühlte. Ihre Füße setzten auf einem Haufen kreuz und quer liegender Gegenstände auf.
«Touchdown», meldete sie. «Ich beginne mit der Suche. Wie ist der Name des Jungen?»
«Finn», soufflierte Bringshaus nah am Mikrofon.
«Finn?», rief Tia. «Dana? Sind Sie hier?»
Sie tat einen zögernden Schritt, geriet jedoch ins Stolpern und keuchte erschrocken.
«Alles in Ordnung?», drang Leons besorgte Stimme aus dem Headset.
«Ja. Merkwürdige Bodenbeschaffenheit … Fühlt sich an, als laufe man auf Watte.» Tia ließ sich auf die Knie nieder und tastete. Ein Schauder überlief ihre nackten Arme und kroch bisin den Rücken hinauf. Als ihr Gehirn abzubilden versuchte, was ihre Finger erfühlten, formte sich eine groteske Vorstellung in ihrem Geist, am ehesten vergleichbar mit einem riesigen, unförmigen Körper, der von zottigem Pelz bedeckt war. Ganze Büschel überzogen die Oberfläche, die sich an einigen Stellen zu federnden Matten verdichteten, andernorts zu filigranen Netzen spreizten. Einzelne dickere Ranken, etwa vom Umfang eines Schnürsenkels, durchzogen das Gewebe wie verästelte Adern. Erst als Tia die Büschel auseinanderschob – was einige Mühe erforderte –, konnte sie darunter rostiges Metall und feuchte Erde tasten. Sie stand auf einem Müllberg, bestehend aus verstreuten Fässern, Holzabfällen und anderem Unrat, der von dem seltsamen Geflecht wie von Gras überwachsen war.
Ein Geräusch drang an ihre Ohren: der nahezu unhörbare Atem eines Menschen. Tia ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch in die Richtung, in der sie den Ursprung des schwachen Hauchs vermutete. Ihre Finger glitten über unförmige Erhebungen am Boden, ebenfalls von Faserbüscheln überzogen. Schwache Wärme stieg ihr ins Gesicht, zusammen mit dem Geruch eines menschlichen Körpers.
«Ich habe den Jungen!», meldete sie. «Er lebt.»
«Gott sei Dank», antwortete Leon. «Wie ist sein Zustand?»
«Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …» Tia zögerte, während sie die wenigen Stellen nackter Haut befühlte, die sie erreichen konnte. Der junge Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken und atmete schwach, aber regelmäßig. Sein rechtes Bein war verdreht und offenbar mehrfach gebrochen – da konnte man seine Bewusstlosigkeit als Segen betrachten. Was Tia weit mehr alarmierte, war die Tatsache, dass das Fasergeflecht fast seinen gesamten Körper bedeckte, als hätte eine gigantische Spinne ihn eingesponnen. Ganze Büschel wanden sich um seine Beine und hatten sich quer über Brust und Hüftengelegt, als wollten sie ihn am Boden halten. Auch der Kopf des jungen Mannes war zur Hälfte überwuchert: Die Flechten hatten sein Haar, seine Wangen, seine Ohren und den nackten Hals erfasst und wie mit feuchtem Moos bedeckt. Bei dem Versuch, die Fasern fortzuwischen, stellte Tia fest, dass sie überraschend zäh waren und auf der Haut hafteten.
«Der Junge ist bewusstlos. Komplizierte Unterschenkelfraktur, deutlich tastbar. Puls und Atmung sind verlangsamt, aber stabil. Doch da ist noch etwas … etwas Seltsames, eine Art Fasergeflecht. Es hat die ganze Hügelkuppe überwuchert, als hätte man eine Grasmatte darüber gebreitet. Das muss den Sturz des Jungen abgefedert haben, andernfalls hätte er sich sämtliche Knochen
Weitere Kostenlose Bücher