Das Geflecht
gebrochen.»
«Was ist das für ein Zeug?»
«Eindeutig organisch, jedenfalls dem Geruch nach. Das Problem ist: Es bedeckt nicht nur den Boden, sondern auch den Körper des Jungen. Er ist eingesponnen wie in einen Kokon. Ich werde ihn erst freisäbeln müssen, damit ihr ihn hochziehen könnt.»
«Tia, das klingt …»
«Unglaublich, ich weiß.»
Obwohl tausend Fragen offenblieben, brach sie ihre Untersuchung ab und richtete sich auf. Finn lebte, und die Grundregeln der Notrettung verlangten, dass sie sich nach der zweiten Verunglückten umsah, bevor sie ihn in Sicherheit brachte. Dem Mädchen – Dana – ging es womöglich noch schlechter als Finn.
«Dana?»
Sie wartete, bis das Echo ihrer eigenen Stimme verklungen war, und lauschte konzentriert. Es dauerte einen Moment, doch dann ortete ihr empfindliches Gehör ein leises Keuchen in mindestens zwanzig Meter Entfernung, weitab im hinteren Teil der Höhle.
Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung und kroch auf allen Vieren den Müllberg hinab. Der flache Abhang war von verstreuten, teilweise geborstenen Fässern bedeckt, doch das Fasergeflecht überzog die Metallkörper wie ein Polster, hinderte sie am Verrutschen und war zäh genug, dass sich Tia daran festhalten konnte. Ihre nackten Arme und Beine kribbelten, als protestierten sie gegen die Berührung der fremdartigen Substanz.
Tia erreichte den Boden der Höhle, klinkte das Kletterseil aus und richtete sich auf. Wasserpfützen gurgelten unter ihren Stiefeln, als sie sich der linken Seitenwand der Höhle näherte und in eine flache Mulde tappte. Sie streckte die Hand aus und stellte fest, dass auch die Wand von Fasern überzogen war: Der seltsame Pelz wucherte vom Boden bis zur Decke hinauf wie Efeu an einer Mauer.
«Dana, wo sind Sie?»
Das Atemgeräusch drang aus einem schmalen Hohlraum in Bodennähe. Tia ließ sich auf die Knie nieder. Etwa auf Hüfthöhe bildete das Gestein einen Vorsprung, und darunter befand sich ein enger horizontaler Spalt, der etwa einen Meter tief ins Gestein hineinführte. Tia ertastete den Innenraum und stieß auf einen Fuß, der abwehrend zuckte, als sei er von einer Tarantel berührt worden.
«Ganz ruhig!», sagte sie. «Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.»
Sie packte den Fuß mit beiden Händen und wartete, bis die reflexhaften Bewegungen erschlafften. Oberhalb des linken Knöchels, wo das Hosenbein hochgerutscht war, konnte sie eine Schürfwunde erspüren. Das Gewebe war geschwollen – und von wattigen Flechten überwachsen, die einen kompakten Belag bildeten. Die fremdartige Substanz war durch ein ganzes Büschel von Fäden mit dem Bewuchs am Boden verbunden, als hätte sich eine vielfingrige Hand nach dem Mädchen ausgestreckt und ihr Bein umfasst.
«Haben Sie Schmerzen?»
Dana antwortete nicht. Behutsam tastete Tia sich weiter vor, erfühlte eine Wade, ein Knie, schließlich den Bund einer Hose. Der Körper des Mädchens schien seltsam verdreht: Offenbar war sie in nackter Panik so tief wie möglich in die Felsspalte gekrochen. Rasch befühlte Tia Schultern und Arme der Verunglückten, um sich zu vergewissern, dass sie keine Knochenbrüche erlitten hatte. Dann ergriff sie Danas Beine und versuchte zu ziehen, ließ jedoch sofort wieder ab, als der leise Atem des Mädchens in ein schmerzhaftes Wimmern überging.
«Leon? Das Mädchen ist in einen Felsspalt gekrochen und hat sich derart verdreht, dass ich sie im Augenblick nicht herausziehen kann.»
«Wie geht es ihr?»
«Alle Knochen heil. Offenbar ist sie weich gefallen, vermutlich auf den Jungen, und hat sich dann aus irgendwelchen Gründen hier versteckt. Allerdings steht sie unter Schock und ist nicht ansprechbar. Es wird ein wenig dauern, sie aus diesem Spalt herauszubekommen, denn ohne ihre Mithilfe geht es nicht.»
«Was wirst du tun?»
«Ich werde mich zuerst um Finn kümmern.»
«Bist du sicher?»
«Goldene Regel aller Ersten Hilfe, Leon: Schwerverletzte zuerst!»
Sie schob das Mikrofon des Headsets beiseite, um sich wieder der Felsspalte zuzuwenden. «Dana? Ich muss Sie jetzt kurz verlassen, aber ich komme gleich zurück, das verspreche ich!»
Rasch tastete sie sich zu dem Müllberg zurück, kletterte hinauf und erreichte die Stelle, wo der junge Mann lag. Entschlossen griff sie nach ihrem Rückengepäck und zog ein Allzweckmesser heraus, um den Bewusstlosen von seinen Fesseln zubefreien. Es war schwerer, als sie vermutet hatte: Zwar ließen sich die Fasern leicht durchtrennen, doch ihre dünnen
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