Das gefrorene Licht. Island-Krimi
heißt, das ausgesetzte Kind habe den Vers für die Schwester aufgesagt.«
»Der Vers ist also ein Hinweis darauf, dass der Schwester all das zuteil wurde, was normalerweise dem ausgesetzten Kind zugestanden hätte?«, fragte Matthias.
»Ja, anders kann man den Vers nicht verstehen«, antwortete Dóra. »Ob Guðný noch ein zweites Kind hatte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wohl kaum.«
»Aber wer hat all das bekommen, was gerechterweise Guðnýs Tochter zugestanden hätte?«, fragte Matthias. »Hätte sie ihre Mutter nicht beerben müssen?«
Dóra blähte die Wangen und ließ die Luft langsam entweichen. »Das kommt natürlich drauf an, wann Guðný gestorben ist. Falls ihre Tochter Kristín noch gelebt hat, hat sie ihre Mutter beerbt. Guðný war Alleinerbin, als ihr verwitweter Vater starb. Kristín hätte also den gesamten Familienbesitz geerbt.«
»Wenn das der Fall ist, dann hat jemand von Kristíns Tod profitiert«, sagte Matthias, »und Guðns Erbe erhalten, das korrekterweise ihrer kleinen Tochter zugestanden hätte. Wer wäre das in diesem Fall gewesen?«
»Tja, das heißt ... – der nächste Verwandte der Mutter«, grübelte Dóra. »Grímur, Guðnýs Onkel.« Sie klappte das Buch zu. »Sóldís’ Großmutter hat gesagt, Grímur hat finanziell schlecht dagestanden. Vielleicht hat er Guðnýs Tochter umgebracht, bevor sie ins heiratsfähige Alter kam. Sobald sie geheiratet oder ein Kind bekommen hätte, hätte Grímur als Onkel sofort den Anspruch auf das Erbe verloren.«
»Vollkommen kaltblütig«, sagte Matthias. »Aber er hat den Grabstein nicht aufgestellt, das heißt, falls er das Kind ermordet hat, wusste zumindest seine Tochter Málfríður, Elíns und Börkurs Mutter, von der Leiche da unten. Es wäre ein zu großer Zufall, dass sie einen Stein mit dieser Inschrift ausgerechnet an der Stelle aufgestellt hat.«
»Málfríður«, sagte Dóra nachdenklich. »Málfríður hat alles geerbt, was dem ermordeten Kind zugestanden hätte. Falls da unten überhaupt ein Kind ist und zwar Guðnýs.«
»Ziemlich viel Wenn und Aber«, gab Matthias zu bedenken. »Aber ich gebe zu, dass das logisch klingt. Könnte Málfríður anstelle ihres Vaters Grímur die Mörderin gewesen sein?«
»Kaum. Sie war in den Kriegsjahren ein kleines Mädchen. Als Lára nach dem Krieg wieder nach Snæfellsnes kam, war Guðnýs Kind wie vom Erdboden verschluckt. Man könnte daraus folgern, dass Kristín, Guðns Tochter, die Kristín ist, deren Name an dem Pfeiler auf dem Dachboden steht. Dann ist es am wahrscheinlichsten, dass Málfríður ihn in den Pfeiler geritzt hat:
Papa hat Kristín getötet. Ich hasse Papa.
Vielleicht ist sie dahintergekommen.«
»Du hast die alte Geschichte fast enträtselt«, meinte Matthias und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Von dort rief er, wobei er versuchte, das Geräusch des fließendes Wassers zu übertönen: »Nur blöd, dass das Jónas nicht weiterhilft! Birna und Eiríkur sind bestimmt nicht deshalb umgebracht worden.«
»Tja, ich weiß nicht«, rief Dóra zurück. »Vielleicht hat Birna von der Geschichte Wind bekommen und sollte deshalb zum Schweigen gebracht werden. Jemand wollte verhindern, dass die Geschichte aufgedeckt wird. Sie hat die alten Sachen durchwühlt, was das Foto von Magnús beweist. Vielleicht hat sie etwas entdeckt und ist auf die richtige Fährte gekommen.«
Matthias erschien mit einem Handtuch in der Türöffnung und trocknete seine Hände ab. »Aber wer würde Birna deshalb umbringen wollen? Elín und Börkur?«
»Nee«, meinte Dóra, »die hätten doch das Land nicht verkauft, wenn sie die Geschichte geheim halten wollten.«
»Vielleicht wussten sie gar nichts darüber«, meinte Matthias und verschwand wieder mit dem Handtuch im Badezimmer. »Birna hat ihnen möglicherweise davon erzählt und sie erpresst. Sie hat ja wahrscheinlich auch versucht, Magnús und Baldvin zu erpressen, also war das für sie kein Kunststück.«
»Könnte sein. Aber mein Gefühl sagt mir, dass Birna es nicht gewusst hat. Laut Notizbuch hat sie zwar vermutet, dass etwas mit dem Haus nicht stimmt, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass sie der Sache auf die Spur gekommen ist.« Dóra nahm das Notizbuch zur Hand und blätterte es in aller Ruhe durch. »Weißt du noch, wo das neue Gebäude auf den Entwürfen an der Wand in Kreppa eingezeichnet war?«, fragte sie.
Matthias versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen. »Warum fragst du?«
»Könnte Birna
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