Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Spürsinn?!«
Ich hebe den Kopf und sehe ihn neugierig an. Ja, wirklich gierig, denn alles, was er zu diesem Thema an Erkenntnissen zu haben glaubt, interessiert mich brennend.
»Nahe liegendsten Gedanken?«, wiederhole ich ungeduldig und mache eine Geste mit der Hand, die ihm sagen soll, dass er gefälligst auszuspucken hat, was er denkt.
»Dass Emma und Antonie … also, wie soll ich sagen?«, stammelt Lothar umständlich.
Ich richte mich auf. »Sag es einfach!«
»Also, mir kam der Gedanke, dass die beiden womöglich … ohne, dass ich ganz sicher wäre, aber es könnte doch sein …«
»Was denn?«, unterbreche ich ihn brüsk. Dieses Um-den-heißen-Brei-Herumschleichen hat mich schon früher immer zur Weißglut getrieben.
»Dass die beiden ein und dieselbe Person sind«, sagt Lothar.
Mir ist, als risse jemand meine Augenlider nach hinten und ein blendend weißer Lichtstrahl träfe meine Pupil len und schösse durch sie hindurch zu den trägen grauen Zellen meines Gehirns. Ich quieke auf. Loulou springt aus dem Schlaf hoch und blafft ein paarmal verlegen herum, weil sie nicht mitbekommen hat, was passiert ist und warum ich um Himmels willen plötzlich so aufgeregt bin.
»Lothar!«, hauche ich, meine Finger fest in seinen Arm gekrallt. »Das kann nicht sein! Ich meine, die beiden sind … sie sind so unterschiedlich! Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie …«
Emmas Poesie, ihr Charme und ihre Eigenwilligkeit.
Antonies Spontaneität, ihre Power und naive Unverstelltheit.
Das passt doch nicht zusammen, oder?
Oder?
»Wirklich nicht?«, fragt Lothar. »Du weißt doch selbst, dass der Bildschirm geduldig ist. Dem kann man viel erzählen.«
Emmas manchmal ausbrechender Witz, ihre verschrobenen Auftritte im Chat-Raum inmitten der anderen.
Antonies stille Momente, das nachdenkliche Glitzern in ihren grauen Augen.
Graue Augen …
»Aber wieso denn bloß?«, wimmere ich kläglich. Das kann doch jetzt nicht sein. Aber wenn ich ehrlich bin und genau in mich hineinhöre, dann weiß ich, dass es stimmt. Genauso ist es. Und genau das war es, das sich mir als vage Ahnung aufdrängte, als Antonie an meinem Rechner stand und versonnen auf die Tastatur starrte. Da kam mir dieser Gedanke auch schon einmal wie ein Nebelschleier, der sich dann jedoch rasch wieder verflüchtigte. Und er tauchte wieder auf in dieser ersten Nacht. In Form meines Traumes war es ganz deutlich: Sie sind eins.
Lothar zuckt die Achseln.
»Vielleicht war es am Anfang wirklich nur ein Spiel? Und später … hm, sie hat doch eine wunderbare Möglichkeit, dich in Emmas Namen über sich selbst auszufragen und zu erfahren, wie du zu ihr stehst.«
Es läuft mir eiskalt den Rücken runter.
»Das ist gruselig. Wer macht denn so was? Wenn das stimmt und du Recht hast, dann muss die doch völlig verrückt sein!«
»Ach was. Manchmal baut man eben Unsinn im Leben. Und nach dem, was du von Antonie erzählt hast, kann ich mir schon vorstellen, dass ihr mal der eine oder andere irre Gedanke kommt, den wir zunächst mal ziemlich ungewöhnlich finden würden.«
Ich denke an das Klickediklack an meinem Fenster, mitten in der Nacht. Vanillemousse mit zwei Löffeln aus einem Behältnis.
»Natürlich!«, hauche ich. »Du hast Recht! Wieso bin ich nicht darauf gekommen?«
Mir schießen Situationen durch den Kopf, die so was von eindeutig gewesen sind, dass ich mich wirklich blöd nennen kann, nicht schon vorher auf diese Idee gekommen zu sein.
Unser erstes arrangiertes Treffen! Antonie hat wahrscheinlich absichtlich den Treffpunkt so gelegt, dass ich fortwährend auf die Einfahrt zum Tierarzt starren musste. Mit etwas Glück würde ich mich also an unser Gespräch erinnern und dann dort aufkreuzen, wo sie ganz selbstverständlich mit mir zusammentreffen würde. Sie hatte unsere Begegnung also direkt manipuliert.
Dann die Verabredung auf dem Schwof! Selbstverständlich konnte Emma dort nicht auftauchen. Denn schließlich war es Antonie, die mir die Mail geschrieben und mich eingeladen hat und die ich dann ja auch, wie zufällig, dort traf.
Allerdings hat diese Theorie zwei Haken. Zum einen ist mir nicht klar, wie Antonie es geschafft hat, mir oben am Berg wie zufällig über den Weg zu laufen, als eine Unbekannte – obwohl sie mich schon längst per Internet kannte.
Und die größte Frage, die sich einfach aufdrängt, ist die: Warum macht sie so was?
Immer und immer wieder diese Frage.
In der Gewissheit, dass ich darauf keine Antwort finden
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