Das geheime Bild
nicht aufspüren konnten. Außerdem war der Zustand des Babys inzwischen ohnehin viel zu ernst, um eine Operation überstehen zu können. Die Mutter war verzweifelt, und der Schatzmeister wusste, dass sie nicht klarkäme, wenn er ins Gefängnis gesteckt würde. Genau, der Schatzmeister. Letchfords damaliger Schatzmeister. Mit Gefängnis bedroht, weil er Geld genommen hatte, das ihm vom Direktor angeboten worden war. Aber wie sollte er das jetzt beweisen? Es waren keine Verträge aufgesetzt worden. Es war ein Gentleman’s Agreement gewesen.
Schließlich landete die Familie in Neuseeland, wo die Ärzte ihr Bestes für das Baby gaben, das inzwischen sehr geschwächt war. Der Junge starb, meine Damen und Herren.« Sie hielt inne. »Das Kind, das vielleicht hätte gerettet werden können, war mein Bruder. Auf der Bühne sehen Sie sein Ebenbild. Als das Baby starb, starb ein Teil meiner Mutter mit ihm.
Vielleicht sollte ich Ihnen das alles gar nicht erzählen. Aber traurigerweise war dies nicht der einzige Vorfall, bei dem Charles Statton sich als herzlos und selbstsüchtig erwiesen hat. 1968 war er …« Ich stellte mich auf die Puppe. Kurzzeitig stoppte die Stimme. »… Student und beteiligte sich am Prager Frühling«, sprach sie weiter. »Er ließ eine schwangere Freundin zurück, der es nicht gut ging.« Man konnte noch immer alles verstehen, aber der Ton war leiser, seit ich draufgetreten war. »… damit er seine eigene Haut retten konnte, überließ er sie der Gnade der einmarschierenden Russen, meine Damen und Herren. Er hat sich kein einziges Mal nach ihr oder dem Kind erkundigt, nicht einmal nach der Samtenen Revolution, als eine Rückkehr in sein Heimatland für ihn absolut gefahrlos war. Inzwischen hat er eine Enkelin, die er auch nicht anerkannt hat …«
Ich trat erneut auf die Puppe. Die Stimme schwieg. Ich zog der Puppe das Kleid aus und riss die Stiche in ihrem Stoffleib auf, in dem sich ein Tonband versteckte, ein kleines schwarzes Gerät. Nachdem ich es ausgeschaltet hatte, trat ich vor den Vorhang und wandte mich ans Publikum.
»Ich danke Ihnen für Ihre Geduld«, sagte ich mit einem, wie ich hoffte, zuversichtlichen Lächeln. »Wir entschuldigen uns für diese Unterbrechung.« Ich nickte Jenny zu, die in den Kulissen stand und sich die Hand vor den Mund hielt.
»Das Stück wird jetzt fortgesetzt. Bitte geben Sie uns einen Moment Zeit, um das Bühnenbild aufzubauen.« Ich kehrte hinter den Vorhang zurück. Schauspieler und das Backstage-Team starrten noch immer das Tonband an, das ich in der Hand hielt. Nach und nach kamen alle auf die Bühne. Die Leiter wurde zur Seite geschoben. Ich kickte die Puppe in die Kulissen und warf das Seil hinterher. Jenny flüsterte mit den Schauspielern. Ich ging von der Bühne, um Olivia zu suchen. Was hatte sie mitbekommen? Vermutlich alles, wenn sie mit den anderen in den Kulissen gewartet hatte. Sie saß gefasst da, die Hände im Schoß.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie nickte. »Ich wusste schon immer, dass sie verrückt ist«, meinte sie verächtlich. »Sie kündigte an, etwas Denkwürdiges zu tun. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie es während des Stücks tun würde.«
Ich kniete mich hin, damit ich mit ihr auf Augenhöhe war. »Du hättest es uns sagen sollen, Olivia. Wir hätten dem Einhalt gebieten können.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, sie ist verrückt. Wenn sie das nicht gemacht hätte, hätte sie etwas Schlimmeres angestellt. Sie hat mich die Treppe hinuntergestoßen, als ich sagte, dass ich ihr nicht helfen will.« Etwas huschte über ihr bleiches Gesicht. »Haben Sie Ihren Hund schon wiedergefunden?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Alle sind bereit«, flüsterte Jenny. »Lasst uns alle das Beste daraus machen. Zeigt allen, wie professionell ihr seid.«
»Hals- und Beinbruch«, wünschte ich ihnen mit leiser Stimme. »Zeigt es uns!«
»Wir werden es für Ihren Dad tun.« Die Stimme war sehr leise, ich musste ins Dunkel spähen, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Ein kleiner Erstklässler, ein Statist aus einer der Szenen im Gerichtssaal. Ich hatte ihn bisher noch nie etwas sagen hören, was nicht im Text stand. Mir fiel sein Name wieder ein. James Perry. Der Erstklässler, der einen Fußball gegen eine Fensterscheibe gekickt hatte.
Jetzt war keine Zeit, mir um Dad Gedanken zu machen. Ihm wäre es peinlich, wenn ich mich mit einem Blick auf ihn vergewissern würde, ob mit ihm alles in Ordnung war. Jetzt stand das Stück
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