Das geheime Bild
ihrer Klingen bei ihm zum Einsatz gebracht, aber das hatte sie nicht geplant. Und wenn man von seinen Plänen abwich, ging meistens etwas schief. Wie etwa damals, als sie vor den Herbstferien ausgerastet war und Olivia die Treppe hinuntergestoßen hatte.
Sie wiegte sich auf ihren Fersen vor und zurück und überlegte, bemüht, Ruhe zu bewahren. Du hast es in der Hand, wie du auf etwas reagierst, Emily, hatte der Wuttherapeut, bei dem sie vor einem Jahr gewesen war, zu ihr gesagt. Sie atmete tief ein und ließ ihren Atem durch ihren Körper strömen. Entspannte ihre Schultern. Jetzt könnte sie noch gehen. Und ihre Aktionen darauf beschränken, sich an die Presse zu wenden und ein wenig schlechte Publicity für die Schule anzustoßen.
Als sie sich erhob, bellte der Hund sie an, sein stechender Blick und die gesträubten Nackenhaare ließen keinen Zweifel daran, dass sein Zorn ihr galt.
Sie änderte ihre Meinung, was das Verschonen des Hundes betraf. Sie zog die mitgebrachten Speckstreifen aus ihrer Tasche. Er hörte zu bellen auf und spitzte die Ohren. Sie warf einen Speckstreifen in die hintere Ecke des Wohnzim mers, und er schoss an ihr vorbei, um ihn sich zu holen. Ein e Sekunde später war sie an der Eingangstür, aber er hatte inzwischen den Speck hinuntergeschlungen und kam ihr nachgerannt. Sie zeigte ihm den zweiten Streifen, riss ihn entzwei und warf ein Stück davon hinter sich, die Treppe hinunter. Genau zu treffen war schwer, wenn man mit dem Rücken zur Treppe stand; als sie sich zu dem Hund umdrehte, sah sie, dass er an der Eingangstür stand und hastig verschlang, was sie ihm hingeworfen hatte. Sie hatte noch ein Stück übrig. Das warf sie nun in den Hof, der Hund schoss hinterher, und sie konnte die Wohnung verlassen.
Vermutlich würde Samson im Hof bleiben und warten, bis ihn wieder jemand in die Wohnung ließ, aber womöglich lief er auch weg. Im Berufsverkehr war die Straße stark befahren, und die Autos rasten hier vorbei. Sie hatte den Hund schon einmal auf seinen Hinterbeinen stehen sehen, als er versuchte, den Zaun zu überspringen. Damals wollte er zu dem Auto laufen, in dem sie mit Sofia saß, die von ihr beruhigt werden musste, nachdem Meredith ihr in Bellingham einen Besuch abgestattet hatte. Jetzt hinderte den Hund niemand daran, auf die Straße zu springen, wenn er wollte.
Emily warf einen Blick auf ihre Uhr. Gerade noch Zeit, den Schlüssel in Simons Cottage zurückzubringen. Sie besaß auch seinen Zweitschlüssel. Dass er fehlte, war ihm nicht aufgefallen, oder er dachte, er hätte ihn Meredith irgendwann zurückgegeben. Kleine Gefälligkeiten waren bei diesen beiden ganz normal. Emily war von Simon nicht gefragt worden, ob sie den Schlüssel zu seinem Cottage haben wollte, nicht einmal, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Er schämte sich deswegen noch immer, obwohl sie keine Schülerin und nichts daran illegal oder auch nur unmoralisch war. Ständig brabbelte er, er habe die Situation ausgenutzt und wie viel jünger als er sie sei. In diesem Punkt hätte sie ihn fast korrigiert, aber ihr war noch rechtzeitig eingefallen, dass sie knappe neunzehn und keine zweiundzwanzig war. Ein Glück, dass sie die Sonne und alle zünftigen Aktivitäten im Freien immer gehasst hatte, um die die Neuseeländer ständig so ein Tamtam machten.
Das jugendliche Alter von Tracey Johnson hatte Simon auch nicht davon abgehalten, sich auf eine kurze Affäre mit ihr einzulassen. Dabei gab es für Simon in Wahrheit nur eine einzige Frau, was vermutlich auch Tracey herausgefunden hatte. Meredith. Er verehrte sie. Alle anderen waren nur etwas zum Spaß haben. Meredith und die alten Papiere und Fotos im Schrank des Geschichtsraums – das war alles, was Simon wichtig war. »Geschichte ist meine Passion«, hatte er Emily erklärt. Für ihn bedeutete die Vergangenheit alte Papiere und knarrende Häuser. Für sie bedeutete sie etwas ganz anderes. Eine Geschichte des Blutes.
Der Hund war noch mit dem Speckstreifen beschäftigt und zollte Emily keinerlei Beachtung, als sie an ihm vorbeiging. Da hatte sie einen Einfall, der ihr wie viele ihrer Ideen unvermittelt und plastisch vor Augen stand. Dazu brauchte es Schneid. Sie hatte Angst vor Samson. Ihre Hand griff an den Gürtel ihrer Jeans, dessen Schnalle sie löste. Rasch, während er noch mit Kauen beschäftigt war. Sie ging auf ihn zu und zwang sich, es zu tun. Sie schob den Gürtel unter seinem Halsband durch, solange er noch den Kopf nach unten hielt. »Wir
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