Das geheime Bild
Erscheinungsbild musterten: abwägend, beurteilend und manchmal – selten – anerkennend. »Du solltest dich glücklich schätzen«, hatte Deidre gemeint. »Wenn sie sich gar mehr die Mühe machen, einen in Augenschein zu nehmen, dann weißt du, dass du in ihren Augen eine alte Schachtel bist.«
Wir erreichten den Zaun am Rand der Straße, die Grenze des Schulgeländes. Ich machte kehrt. Noch sieben Minuten Zeit, um den Hund zu Hause abzuliefern und etwas Schickeres anzuziehen. Ich begann zu laufen und rief Samson zu, er solle mitkommen.
Ich sah die Stallungen schon vor mir, als ich fast in jemand hineingelaufen wäre, der mit dem Rücken zu mir stand und seinen Blick auf den Blumenbeeten ruhen ließ. Emily Fleming.
»Hi«, sagte ich.
Sie drehte sich um. »Ich habe einen Morgenspaziergang gemacht.« Ihre ungewöhnlich hellen blauen Augen bewegten sich rasch hin und her. Es war den Mitarbeitern nicht verboten, sich in diesem Teil der Gärten aufzuhalten, kein Schild erklärte sie zum Privatgelände, doch es war mehr oder weniger ein ungeschriebenes Gesetz, dass diese Seite des Hauses der persönlichen Nutzung durch die Familie vorbe halten war. Aber woher sollte diese junge Neuseeländerin da s wissen, wenn man es ihr nicht gesagt hatte? Ich machte ihr keinen Vorwurf daraus, dass sie gern ein paar Minuten zwischen den letzten Astern und Rosen der Saison verweilen wollte. Bald kam der Winter, und die Blüten wären nur noch Erinnerung. Mich schwindelte, da ich an die Blumen auf Mums Beerdigung denken musste. Clara und ich hatten Wicken aus dem Garten zu einem Kranz gewunden. Es waren ihre Lieblingsblumen gewesen, insbesondere die schokoladebraunen. Es war am Tag der Trauerfeier warm gewesen, und der Duft hatte uns überwältigt, als wir in der Kirche saßen. Danach hatte ich die Wicken an ihrem Spalier zu Samen heranreifen lassen. Emily richtete ihren wässrigen Blick mit einem Ausdruck auf mich, den ich nicht zu deuten wusste. Vermutlich mein zusammengedrücktes Haar.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie. Offenbar spiegelte mein Gesicht die Erinnerung an die Wicken.
»Ja, bestens.« Ich betrachtete sie genauer. Sie war sehr schmal, hatte langes Haar und diese interessanten Augen. Eigentlich war sie sehr hübsch, aber mir fiel zu ihr eher das Adjektiv »auffallend« ein – vielleicht ein zu starkes Wort, um sie zu beschreiben. »Danke. Und was ist mit Ihnen, Emily? Haben Sie sich schon eingewöhnt?« Ihre Anwesenheit hatte was Verstörendes. Offenbar hatte sie Heimweh. Oder war wegen des albernen Streichs gestern Nachmittag durcheinander. Armes Kind.
»Mir geht es gut, danke.« Ihre Stimme verriet nichts. Sie schnippte sich ihr Haar aus dem Gesicht. Wieder trug sie die seidige Strickjacke, die ich schon gestern bewundert hatte. Für eine Gappy war Emily sehr gut gekleidet. Gewöhnlich machten Gappys bei Schuljahresbeginn eher den Eindruck, als kämen sie geradewegs vom Strand und müssten sanft beratend darauf hingewiesen werden, was Arbeitskleidung ist.
»Die beste Zeit des Tages«, sagte ich. »Alles ist noch so frisch.«
Sie nickte sehr ernst. »Ich kann verstehen, warum es schwer ist, diese Schule zu verlassen.« Sie wollte damit wohl andeuten, dass es mir unmöglich gewesen war, dem Heim meiner Kindheit fernzubleiben. Vielleicht hatte sie ja recht.
»Ich weiß nicht, es gibt auch andere Orte auf der Welt, die es wert sind, besucht zu werden.« Der fröhliche Ton meiner Antwort klang zu gezwungen. »Sie werden sicherlich ein wenig umherreisen wollen, solange Sie hier sind.«
»Aber nirgendwo kann es so sein wie hier.« Sie spielte mit den Blütenblättern einer violetten Aster. »Keine andere Schule kann so schön sein.«
Ich musste an all die anderen alten Schulen denken, die ebenfalls auf weitläufigem Gelände erbaut waren. Aber ich wollte Emily nicht widersprechen, wenn sie der Meinung war, dass Letchford mit der schönsten Umgebung gesegnet war. Denn davon war auch ich überzeugt.
»Sie sind gerade erst angekommen. Sie werden erst im Juli nächsten Jahres Abschied nehmen müssen. Das ist viel Zeit, um Letchford überdrüssig zu werden. Und unser.«
»Mag sein.« Sie sah mich mit einem neugierigen Lächeln an. Doch fröhlich wurde ihr schmales Gesicht dadurch nicht. »Ich sollte mich wohl lieber beeilen, um rechtzeitig zur Morgenversammlung zu kommen.«
6
V öllig bizarr.« Meine Schwester trank ihren koffeinfreien Kaffee aus und signalisierte ihrem Ehemann mit einem Nicken, dass
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