Das geheime Bild
ich schwankend weggegangen war, die Papiertüte mit dem Obst und der Wellington-Biografie noch in der Hand, weil mir keine Zeit geblieben war, sie ihm zu geben. »Mache ich es ihm tatsächlich schwerer?« Wir saßen in einem kleinen Büro, zwischen uns auf dem Tisch standen volle Teebecher, die keiner anrührte.
Der Pfleger war erst nicht darauf eingegangen. Er hatte seine Hand aus meiner gelöst und sie auf den Tisch gelegt. »Er ist im Moment voller Wut. Er hat ein Bein verloren. Sein Leben wird nie wieder dasselbe sein. Manche Männer richten die Wut gegen sich selbst – genau das macht Hugh.« Er sah mich direkt an. »Wir wissen wirklich nicht, welche Auswirkungen eine Bombenexplosion auf das Gehirn hat.« Er öffnete die Papiertüte und nahm eine Orange heraus, die er gegen den Tisch knallte. »Stellen Sie sich vor, dies sei das Gehirn, das aufgrund der Gewalt der Explosion gegen den Schädel schlägt. Keiner kann mit Gewissheit sagen, was mit diesen Zellen passiert ist.«
»Er könnte …« Ich schluckte. »Hirngeschädigt sein?«
»Seine Fähigkeit, auf Stress zu reagieren, könnte Schaden genommen haben. Seine Konzentration. Seine Selbstkontrolle. Und denken Sie an all die Medikamente, die er in den letzten Monaten bekommen hat. Manche davon lösen kurzzeitige Persönlichkeitsveränderungen aus. Das mag der Grund dafür sein, warum er so«, er grinste entschuldigend, »verdammt unausstehlich ist. Ihnen gegenüber. Bei uns hat er sich unter Kontrolle. Das ist übrigens gut.«
»Ist es das?«
»Dass er sich Ihnen gegenüber so wütend und verletzlich zeigt, beweist vielleicht, dass er Ihnen noch immer genügend vertraut.«
Deshalb musste ich also bestraft und weggeschickt werden.
»Hugh muss einfach einen Teil seiner emotionalen Energie aufsparen und kanalisieren, um wieder gehen zu lernen. Wir nehmen ihn hart ran. Täglich vier bis fünf Stunden kör perliche Aktivität. Solange er hier ist, bekommt er ständig das Geplänkel der anderen zu hören. Wenn er sich lautstark über etwas auslässt, muss er mit ihren Grobheiten rechnen, und das gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Das Gefühl, akzeptiert zu werden.« Achselzuckend fuhr er fort: »Ich wei ß, das hört sich seltsam an, aber genauso ist es. Sie verstehen ihn. Irgendwann werden sie alle wieder gemeinsam in Pubs und Cafés und öffentliche Schwimmbäder gehen. Das hilft ihnen, wieder ins normale Leben zurückzufinden.«
»Er sagte mir, er habe absolut nicht die Absicht, jemandem eine ver … jemandem zur Last zu fallen.« Ich hörte das Zittern in meiner Stimme.
»Er braucht Sie, Meredith.« Er legte die Orange in die Tüte zurück und kritzelte eine Notiz auf einen Block. »Ich werde mit den Ärzten über seine Medikamente sprechen. Dem Beschäftigungstherapeuten fällt vielleicht auch noch etwas ein.«
»Was kann ich denn tun?« Ich hörte mich an wie ein verängstigtes kleines Mädchen und nicht wie eine berufstätige Frau, die widerspenstige Klassen kontrollierte. Ich sagte mir, dass mein Mann verwundet worden war, nicht ich. Aber als dieser Sprengstoff losging, hatte er unser beider Leben zerfetzt.
»Das können letztendlich nur Sie selbst entscheiden. Aber an Ihrer Stelle würde ich etwas Zeit verstreichen lassen, bevor Sie wieder zu Besuch kommen. Wochen. Vielleicht sogar Monate.«
»Monate?« Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme.
Er nickte. »Lassen Sie ihn erst einmal die nächste Stufe der Reha überstehen. Die wird hart werden. Schmerzhaft. Er hat sich vorgenommen, wieder Ski zu fahren.«
Tatsächlich?
»Und um dahin zu kommen, wird er allen Mut brauchen. Während er sich an die Prothese gewöhnt, wird er wie eine Mutter sein, die lernt, sich an das Leben mit einem Neugeborenen zu gewöhnen.« Er schüttelte den Kopf. »Würde einer von ihnen hören, was ich Ihnen sage, brächten sie mich um.«
Das konnte ich mir gut vorstellen. »Ich lasse ihn in Ruhe.«
»Sie tun, was er möchte.«
Ich schob die Wellington-Biografie und das Obst über den Tisch. »Das mag vielleicht ein anderer Patient.« Ich hatte das Zentrum verlassen, ohne auch nur einen Blick auf Hughs Station zurückzuwerfen.
Mein Vater hatte mir bereits angekündigt, dass er nach Ostern in Letchford eine freie Stelle als Englischlehrerin anzubieten habe – eine Lehrerin trat ihren Mutterschaftsurlaub an. Das Schicksal hatte mich in mein altes Zuhause mit seinen honigfarbenen Steinmauern und üppigen Gärten zurückgeholt, zu meiner Mutter mit ihrem
Weitere Kostenlose Bücher