Das geheime Bild
ich meine eigene Mutter verloren hatte.
In der Küche meiner Wohnung angekommen, ließ sich Samson vor meinen Füßen zu Boden fallen und seine Zunge wie ein kleines rotes Taschentuch heraushängen. Ich stellte Wasser auf, um Reis zu kochen, und zwang mich, Paprika, Chilischoten, Zwiebeln, Süßkartoffeln und die Bohnen zu schnippeln, die ich aus dem Gemüsegarten meiner Mutter geerntet hatte, weil mir der Gedanke unerträglich war, sie dort verrotten zu lassen. In unserer Ehe war Hugh der Koch gewesen. Meine Fähigkeiten im Umgang mit Messern und Pfannen waren begrenzt. Wenn er im aktiven Dienst war, half ich mir mit getoasteten Sandwiches und Obst. Mum hatte versprochen, mir ein paar Grundlagenrezepte beizubringen. Aber jetzt war ich auf mich allein gestellt.
»Geschieht dir recht.« Die Bratpfanne und ich waren immer schon Gegner gewesen. Doch heute Abend wollte ich zeigen, wer hier der Boss war. Ich drehte die Gasflamme auf, briet die Gewürze an und gab dann Hähnchenstreifen und Gemüse dazu. Das Ergebnis sah gar nicht mal so übel aus, als ich fertig war, aber die Hähnchenstreifen hatten beim Essen die Konsistenz von Radiergummis, und die Süßkartoffeln waren hart wie Holz. Ich schob mein Tablett beiseite und schaltete die Channel-4-Nachrichten ein, aber gleich wieder aus, als von Afghanistan die Rede war. Nachdem ich abgewaschen hatte, stellte ich fest, dass meine Korrekturarbeit in einer halben Stunde erledigt wäre. Noch immer lag ein ganzer Abend vor mir.
Ich ließ mir ein Bad einlaufen, legte mich hinein und ließ den Schaum seine Arbeit tun. Danach schaute ich mir eine Sendung über eine Meerkatzenfamilie an, die mich an einen Klassenraum voll schwatzhafter Drittklässler erinnerte. Als sie zu Ende war, schaltete ich wieder aus und starrte den leeren Bildschirm an. Noch eine halbe Stunde, bevor es Zeit war, zu Bett zu gehen und wieder einen Tag auszustreichen. Ich wollte mich gerade aufraffen, die Post durchzusehen, als mich das Klingeln meines Mobiltelefons aufschreckte.
»Meredith?« Clara. Ein dringlicher Ton in der Stimme. »Was ist da los mit dem erstochenen Baby, und warum hat mir keiner was gesagt?«
»Es ist erst heute Nachmittag passiert, und es war auch kein totes …«
»Ich bin Mitglied des Schulbeirats.«
»Es war doch nur eine Puppe.«
Schweigen.
»Ein Streich, Clara.«
»Wie kann man eine Puppe mit einem Baby verwechseln? Selbst Simon würde sich doch nicht so leicht täuschen lassen?« Ihn schätzte sie besonders.
»Es war nicht einfach irgendeine Puppe.« Ich erzählte ihr von den Reborn-Puppen, die aussahen, als könnten sie jeden Moment mit ihrer winzigen Faust winken oder zu weinen anfangen.
»Das ist ja sehr speziell.«
»Du müsstest sie sehen, um es glauben zu können.« Ich konnte hören, wie sie auf ihre Tastatur einhämmerte, während ich sprach. Bestimmt suchte sie im Internet nach den Puppen. Meine Schwester ließ niemals Zeit ungenutzt.
»Wie, sagtest du, heißen sie?«
Ich sagte es ihr noch einmal. »Wie hast du überhaupt davon erfahren?«
»Eine Freundin hat eine Tochter in der sechsten Klasse. Sie hat ihrer Mutter eine SMS geschickt.«
Natürlich.
»Mein Gott.« Offenbar hatte sie ein Bild von einer der Puppen im Internet gefunden. »Die sind ja wirklich außergewöhnlich. Wer um Himmels willen kauft denn so was? Und wer würde sie so abstechen?«
»Wir haben keine Ahnung.«
»Nun, ich hoffe, ihr findet es heraus und bestraft die Schuldigen entsprechend.«
»Es waren vermutlich nur Teenager, die eine Mutprobe machen wollten.« Aber dann fiel mir wieder ein, was Deidre über Frauen mit psychischen Problemen gesagt hatte, die sich solche Puppen in Stresssituationen zulegten. »Ich glaube wirklich nicht, dass wir die Sache allzu ernst nehmen sollten.« Hoffentlich klang ich überzeugend.
»Wir kommen am Wochenende runter.«
»Das ist sehr nett von euch, aber du bist beschäftigt und …«
»Versuch nicht, mich abzuwimmeln, Meredith. Ich trage auch Verantwortung für die anderen Mitglieder des Schulbeirats.«
Wie hatte ich das nur vergessen können.
»Und außerdem«, fuhr sie in sanfterem Ton fort, »möchte ich dich sehen. Und Dad.« Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. »Wir beide wollen das. Und die Jungs auch. Ich habe überlegt, ob sie bei dir übernachten können?«
Irgendwann im Laufe des Sommers war es zur Gewohnheit geworden, dass Rory und Sam, sechs und acht Jahre alt, in den Stallungen bei ihrer Tante Merry und Samson
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