Im Kettenhemd (German Edition)
1. Kapitel
Die Ankunft
An einem sternenklaren Juniabend im Jahr des Herrn 1372 gelangte Dietrich von Seidenpfad an die Tore von Vernon.
Hier im Lande der Lilie hoffte der verarmte Landadlige seine Waffendienste im Heer König Karls V. gegen klingende Münze verkaufen zu können. Um eine Rechnung mit den Nomannen zu begleichen, wollte er die Franzosen gegen das englische Invasionsheer unterstützen.
Vernon ist eine in der Normandie gelegene Stadt, die mit den besten Mauern befestigt war. Diese Wehranlage wurde als Trutzburg von Feinden gefürchtet, und ihre Türme waren schon aus weiter Ferne gut erkennbar. Sie befand sich im Bereich des englischen Heeres und es gab Kunde von heftigen Kämpfen.
Der lange Ritt aus dem Hessischen hatte Dietrich ermüdet. Die Vorräte waren fast aufgebraucht und auch Arcon, sein nubischer Hengst, sowie das Lastenpferd brauchten Ruhe. Er hatte sich dem großen, mit schwerem Eisen beschlagenen Stadttor bereits auf einhundert Fuß genähert, als er die raue Stimme des Türmers hörte.
»Qui va là? Was will er, was ist sein Begehr?«, konnte Dietrich heraushören.
Der Kerl war nicht zu sehen, aber so laut, als stünde er neben ihm.
»Ich brauche ein Lager für die Nacht und bin auch sehr hungrig«, rief er ihm zu.
Kurz darauf tat sich direkt neben ihm eine Seitenpforte auf, und ein bärtiger Mann mit einem Eisenhut ließ ihn, seine Pferde hinter sich herziehend, ein.
»Reite die Gasse hinunter, dann findest du ein Wirtshaus«, konnte Dietrich verstehen. Der Sprache nach war das ein gallischer Dialekt. Das Französische hatte er schon oft gehört, stammte doch seine Amme aus der Bretagne. Das Genuschel dieses alten Kriegers war jedoch kaum zu verstehen. Als ein weiterer Wächter mit einer Fackel kam, erkannte Dietrich den Grund: Der Mann hatte eine frische Schwertwunde an Wange und Lippe.
Dietrich fragte: »Hat es einen Kampf gegeben?«
»Ach, diese verdammten Engländer, der Teufel soll sie holen«, sagte der mit der Fackel und griff an sein Schwert. »Haben hier gestern ganz schön gehaust. Wollt Ihr uns zur Seite stehen, Herr? Einen starken Schwertarm kann unser Souverän sicher gut brauchen.«
Dietrichs Blick fiel auf eine am Boden sitzende Gruppe von Männern mit Verbänden und anscheinend schweren Verletzungen. Ihre Waffen waren in der Mitte des Platzes aufgestellt. Einige Frauen versorgten sie mit Essen und Wasser. Im fahlen Licht der Fackeln erkannte er einen am Boden liegenden Mann. Er trug edle Kleidung und sein Harnisch lag direkt neben ihm. Die Lanze mit dem blauen Feldzeichen kannte er.
Es war Junker Jörg zu Trappenberg, mit dem er so viele Wochen im Felde gewesen war und der Dietrich zur Seite gestanden hatte, als sich in der Schlacht bei Gata die Kaiserlichen zurückzogen und ihn mit nur noch etwa hundert Mann seiner Pikeniere im Stich ließen. Der Feind hatte mit seinen schweren Rittern die letzten Tapferen umzingelt. Die Sache wäre übel ausgegangen, hätte nicht der Junker mit seinen deutschen Elitekämpfern das Blatt gewendet. Zuletzt waren sie vor nun schon mehr als drei Jahren im Badischen Lande gemeinsam an so manchem Gefecht beteiligt. Jetzt schlief der Junker fest, und auch Dietrich war zu müde, um zu reden.
Ein Quartier in der Herberge, ein Lager zum Ruhen, und dann sollte der morgige Tag entscheiden, was er tun würde. Langsam trabte sein Pferd den schmalen Steig in Richtung des Wirtshauses hinunter. Dietrichs Blick fiel in die niedrigen Fenster der Bürgerhäuser, die einen urigen Eindruck machten. An den Eingangstüren hingen aus Stroh gebundene Kränze und Zweige mit Weidenkätzchen lagen auf allen Fenstergesimsen. In einem Kaufmannskontor stand man noch am Pult. Ein stattlicher und gut gekleideter Mann schrieb mit einer schönen gelben Feder wohl die letzten Einträge in sein Kassenbuch.
Der Anblick des Kontors erinnerte Dietrich sofort an seine Heimat im Hessischen. Als das Augenlicht seines Vaters nicht mehr ausreichte, die Bücher zu führen, hatte Dietrich selbst die Geschäfte auf dem Gut der Familie übernommen. Jetzt, wo er in der Fremde sein Glück suchen musste, war seine älteste Schwester für das Auskommen seiner drei Geschwister und des alten Vaters verantwortlich. Es waren schlechte Zeiten, und viele Söhne aus gutem Hause verdingten sich als fahrende Ritter in den Heeren von Fürsten oder Königen. Wurde eine Stadt erstürmt, gab man diese meist zum Plündern frei, und wer zur rechten Zeit am rechten Ort war, konnte in kurzer Zeit ein
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