Das geheime Leben des László Graf Dracula
erleichtert auf. Rados Besuch war eine harte Prüfung gewesen. Unter seinem bohrenden Blick schien es nicht geraten, sich zu einem Treffen mit Estelle davonzustehlen.
Das Wetter ließ mich bezweifeln, daß sie später noch zu ihrem gewohnten Spaziergang am Fluß aufbrechen würde. Ich kam ernstlich in Versuchung, im Laden ihrer Eltern vorbeizuschauen, obwohl ich wußte, daß ein solcher Fehler unweigerlich dazu führte, deren Augenmerk auf unsere Verbindung zu lenken.
Aber hatte ich mir das Recht zu einer kleinen Unbesonnenheit nicht sauer genug verdient, nachdem ich drei Tage geopfert hatte, um für Oberst Rado den pflichtschuldigen Gastgeber zu spielen? Also entließ ich Jakob am Bahnhof mit dem Vorwand, daß ich Bewegung brauchte und zu Fuß nach Hause gehen würde. Er starrte skeptisch in den feinen Nieselregen, der auf die glänzenden Schienen zwischen den Bahnsteigen fiel, und nickte ergeben – was wohl besagen sollte, daß er gewillt sei, mir meine Laune durchgehen zu lassen, auch wenn er darin nur ein weiteres Beispiel meiner zunehmenden Schrulligkeit sah.
Mit jedem Schritt in Richtung Stadt wurde mir klarer, wie töricht meine Entscheidung gewesen war. Was anfangs nicht unangenehmer ausgesehen hatte als ein feuchter Nebel, stellte sich als scheußlich aufweichender Regen heraus, der mich schon bald bis auf die Knochen durchnäßt hatte, so daß meine Kleider auf höchst unelegante Weise an mir klebten. Außerdem war die Straße schlammig, und da ich die Fahrt zum Bahnhof in der Kutsche angetreten hatte, war ich für solche rauhen Bedingungen nicht ausgerüstet. Anstatt mich umzustimmen, machten mich diese Widrigkeiten aber nur noch starrsinniger, und ich zog meinen Hut tief ins Gesicht, stemmte mich gegen den Wind und stapfte weiter. Als ich bei dem Laden der Theissens ankam, sah ich wie eine triefende Vogelscheuche aus. Ohne Zögern trat ich ein.
Als hätte die Glocke, die über der Tür bimmelte, ihn unversehens mit einem Bann belegt, saß der junge Mann, den ich mit Estelle am Bahnhof gesehen hatte, wie erstarrt da, mit offenem Mund und einer Gabel voll Strudel auf halbem Weg zu den Lippen. Ich war genauso verblüfft wie er, aber zum Glück besaß ich wenigstens die Geistesgegenwart, ihn zu ignorieren. Ich drehte ihm den Rücken zu, um in das Hinterzimmer zu spähen, aber es war niemand zu sehen, und es rührte sich auch niemand auf das Klingelzeichen. Hinter mir hörte ich hastiges Schmatzen und Mampfen.
Ich wandte mich wieder zu dem Mann um und musterte ihn in aller Ruhe.
Seine Backen waren prall vollgestopft, und er schien sich alles andere als wohl in seiner Haut zu fühlen.
»Ist denn niemand hier?« fragte ich ihn streng.
Er versuchte zu antworten, war aber völlig hilflos, da es ihm offenbar nicht gelingen wollte, den Strudel hinunterzuwürgen. Ich gestattete mir den Luxus, mit aristokratischer Gelassenheit abzuwarten, bis er den demütigenden Prozeß der Nahrungsaufnahme mit zugeschnürter Kehle überstanden hatte. Allmählich entspannte sich seine Miene, und die bedenkliche, schlagflußartige Rötung verging. Er war nicht ohne ein gewisses Ebenmaß der Züge, und er hatte das glatte Blondhaar und die etwas fade Hübschheit des typischen Sachsen.
»Ich fürchte nein«, sagte er und fügte noch schnell »Graf« hinzu, in dem überflüssigen Versuch, das Geständnis zu widerrufen, das ich ihm schon an den Augen abgelesen hatte – daß er mich nämlich nicht nur als den hiesigen Schloßherrn, sondern auch als Estelles Beschützer erkannt hatte.
Hatte Estelle ihn damals am Budapester Bahnhof auf mich aufmerksam gemacht? Kann es sein, daß ihr Verrat schon gleich am Anfang unserer Beziehung begann? Solche Fragen drängten sich mir auf, während ich mir den Burschen ansah. Jedoch empfand ich dabei nichts als gänzlich leidenschaftslose, objektive Neugier, ähnlich der Geistesverfassung, in der ich früher bei schwerkranken Patienten verschiedene Diagnosen zu erwägen pflegte: mit Anteilnahme zwar, aber auch mit innerer Distanz, da es ja um jemanden ging, der mir nicht nahestand.
Ganz in meine Gedanken vertieft, hatte ich den jungen Mann so lange schweigend angestarrt, daß er aus schierer Genervtheit drauf und dran schien, mit einer unbeholfenen Beichte herauszuplatzen, doch ehe er sein Gewissen erleichtern konnte, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.
Tatsächlich war ich ihm beinah dankbar für seine provozierende Anwesenheit in der Bäckerei. Damit war die Lage der Dinge nun
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