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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roderick Anscombe
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während er seine Aufmerksamkeit den übrigen Mordinstrumenten zuwandte, die an der Wand hingen. Er schien ein enzyklopädisches Wissen über Waffen zu besitzen und begrüßte jede einzelne wie einen alten Freund.
    Rado untersuchte gerade ein Musketenpaar mit verschnörkelten Elfenbeineinlagen an den Schäften, als mir plötzlich ein türkischer Dolch auffiel, den ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Er hing in einer düsteren Ecke und war nicht sonderlich eindrucksvoll, da er in einer trüben Lederscheide ohne Prägung oder Ausschmückung steckte. Ich packte ihn am Griff und stellte fest, daß er genau in meine Hand paßte; das Messer glitt leicht und kunstgerecht aus der Scheide. Die Klinge hatte die Form eines riesigen gebogenen Doms, zehn Zentimeter breit an der Basis und gut zwanzig Zentimeter lang. Wenn je ein Ding als solches schon Grausamkeit ausstrahlte, dann dieser Dolch. Ich fühlte eine Welle der Erregung in mir aufsteigen, die mich einen Augenblick lang schwindlig machte. Das Messer kam mir merkwürdig vertraut vor, als wäre es mir zuvor bereits in einem Traum begegnet und fände sich nun auf magische Weise vergegenwärtigt.
    Ich war so sehr von meiner Entdeckung fasziniert, daß ich meinen Gast darüber ganz vergaß und in meiner Geistesabwesenheit wohl eine Frage überhörte, die der Oberst mir gestellt hatte, denn auf einmal wurde mir bewußt, daß er mich neugierig ansah.
    »Das ist ein bösartiges Stück Wertarbeit«, sagte er anerkennend.
    »Aber im Anwendungsbereich ziemlich begrenzt.«
    »Ich möchte meinen, daß es sich in den meisten Fällen recht gut bewährt.«
    »Sehen Sie, die Klinge ist zu breit, als daß man riskieren könnte, sie einem in die Brust zu stoßen, denn dann würde sie wahrscheinlich an den Rippen abprallen, und sie ist wiederum nicht lang genug, um von unterhalb der Rippen zuverlässig das Herz zu treffen.«
    »Wie lautet also Ihre Prognose, Doktor?«
    »Es ist die passende Waffe für einen Meuchelmörder. Jemand, der sich von hinten an sein Opfer anschleicht, um ihm die Kehle zu durchschneiden.«
    »László, Sie sind ein Teufelskerl!« sagte er und versetzte mir einen herzhaften Schlag auf den Rücken. Ich nehme an, das war seine Art, höchstes Wohlwollen auszudrücken. Seine Augen blitzten vergnügt, aber ich wußte, daß sein alerter Verstand immer im Einsatz war, daß seine Wachsamkeit niemals nachließ.

    »Was meinen Sie, könnten Sie das Ding anwenden?« Er stellte die Frage scheinbar beiläufig. »Könnten Sie sich hinterrücks an ein ahnungsloses menschliches Wesen heranmachen, eine Person, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat, die von ihrer Familie geliebt wird... und ihr die Kehle durchschneiden?«
    Ich sah auf den Dolch, der in meiner Hand lag, und wußte die Antwort sehr wohl. »Ich weiß nicht«, log ich.
    »Gut.« Er schien zufrieden. »Das ist die einzige Antwort, die ein anständiger Mann geben kann. Mörderische Narren ohne Ideale oder Zielvorstellungen antworten darauf mit ja – nicht, daß ich Sie auch nur einen Augenblick zu dieser Kategorie gezählt hätte.«
    »Ich denke, Ihre Frage dürfte wohl eher darauf abzielen, ob ich das Leben als zu heilig ansehe, um es aus irgendeinem Prinzip heraus zu opfern.«
    »Um ehrlich zu sein, ich finde Sie erfrischend unsentimental.« Er sah mich abwägend an, als prüfte er meine Eignung für irgendeine spezielle Aufgabe, die er mir zudachte. »Ich bin der Meinung, daß man nie weiß, wozu man fähig wäre, bis der Augenblick gekommen ist«, sagte er, und mir war klar, daß er ebenfalls log.

    21. SEPTEMBER 1887, MORGEN

    Ein trüber Herbsttag. Die Wolken hängen bis ins Tal, und es hat bis weit in den Nachmittag unablässig genieselt.
    Nach dem Frühstück brachte ich Rado zur Bahn. Während Arpad mit dem Regenschirm in Habtachtstellung stand, schüttelten wir uns die Hände, und im letzten Moment vor der Abfahrt beugte sich Rado zu mir vor und sagte:
    »Ungarn wird seinen König bekommen«, als wäre es eine der umständlichen Grußformeln, die das Landvolk austauscht.
    Ich wartete ungeduldig auf den Pfiff des Stationsvorstehers und trat vom Wagen zurück, um uns die Verlegenheit gezwungener Abschiedsfloskeln zu ersparen. Rado ist von seinem ganzen Wesen her nicht zu banalem Geplauder fähig, was seine Gesellschaft oft anstrengend macht. Endlich ertönte das Signal, die Lokomotive stieß eine mächtige Dampfwolke aus und schnaufte langsam aus dem Bahnhof. Als der Zug in der Ferne verschwand, seufzte ich

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