Das geheime Leben des László Graf Dracula
Mal nur von hinten gesehen hatte, und auch das nur flüchtig, hatte ich ihn für irgendeinen gewöhnlichen Büroangestellten gehalten.
Jetzt schien er mir doch mehr Format zu haben – irgendein aufstrebender junger Rechtsanwalt oder dergleichen.
Estelle stellte ihn ihren Eltern vor, und ihren Gesten war zu entnehmen, daß die Theissens ihn schon von früher her kennen mußten. Ich sah, wie Theissen auf den Mann zeigte, als sagte er gerade: »Jetzt erinnere ich mich: Sie sind derjenige, der...« Der Junge, der mit Estelle zusammen in die Schule gegangen war, was für ein Zufall, daß sie sich ausgerechnet auf der Zugfahrt nach Hause wiedergetroffen hatten! In der Tat.
Rado, der seine neue Mauser in der Lederhülle wie ein Baby im Arm hielt, während er Jakob und Arpad herumkommandierte, wandte sich suchend nach mir um. Ihm entgeht nichts. Aber was gab es da schon zu sehen: die Eltern und die Schwester eines jungen Mannes vielleicht, die ihn vom Zug abholen gekommen waren. Nichts, was sein Interesse hätte wecken können. Sie gingen bereits den Bahnsteig hinab, weg von uns, und Frau Theissen hatte Estelle untergehakt. Sicher plauderten sie unbeschwert über die neuesten Budapester Moden oder über die jüngsten Entwicklungen im Familienleben dieser faszinierenden du Barrys. Ich war versucht, Rados Repetiergewehr auf der Stelle auszuprobieren.
2O. SEPTEMBER 1887
Ich kann mich kaum noch rühren. Mein ganzer Körper schmerzt von den tagelangen Gewaltmärschen durch die Berge, die ich mit Rado unternehmen mußte. Er hat mich die gesamte Zeit seines Besuchs in Atem gehalten, so daß ich keine Gelegenheit fand, im Laden der Theissens vorbeizuschauen oder Estelle auf einem ihrer Abendspaziergänge am Fluß abzufangen. Anstatt mit ihr zu sprechen, habe ich mir endlos im stillen unsere Gespräche vorgestellt, während ich hügelauf, hügelab über schmale Jägersteige stapfte. Das ist der kontemplative Aspekt des Schweigens auf der Pirsch.
Diese ausgedachten Zwiegespräche kreisen immer um den gleichen Punkt: Estelle mimt mit aller Überzeugungskraft ihres schauspielerischen Talents die gekränkte Unschuld und leugnet unter Tränen, eine Affäre mit dem jungen Mann aus dem Zug zu haben. Sie kniet flehend vor mir, in einer Haltung demütiger Aufrichtigkeit. Oder sie kniet flehend vor mir, doch während sie mit ihren Gesten meine Vergebung erbittet, fährt sie standhaft fort zu leugnen, daß sie mich betrogen hat. Es gibt endlose Variationen dieser Szenen, und zusammen ergeben sie ein schillerndes Spektrum, von dem klaren Karmesinrot der Wahrheit bis hin zu dem morbiden Magenta der finstersten sizilianischen Doppelzüngigkeit.
Wahrheit? Lügen? Ich werde es nie erfahren, ohne ein Netz von Spionen einzusetzen. Während ich im Geiste ihren Beteuerungen lauschte, wurde mir bewußt, daß meine anfängliche Entrüstung, all dieses Aufbrausen beleidigter Männlichkeit, letztlich eine überraschende Gleichgültigkeit in sich birgt, als ginge es mir im Grunde gar nicht darum, als läge der Kern der Sache ganz woanders. Mir ist jetzt klar, daß Estelles Treue oder Untreue nicht wirklich von Belang ist – lediglich ein flüchtiger Streitpunkt, bei dem es sich schlicht um verletzte Eitelkeit dreht. Doch solche untergeordneten menschlichen Regungen sind null und nichtig gegenüber dem verzehrenden Drang, jemanden zu besitzen, sich das Objekt der Begierde vollkommen zu eigen zu machen.
Dies waren meine Gedanken während der langen Geländetouren der vergangenen zwei Tage. Ich wollte schon schreiben, daß wir die ganze Region durchkämmten, aber jetzt fällt mir auf, daß unsere Wanderungen, so weitschweifend und richtungslos sie auch scheinen mochten, sich doch wie zufällig auf das Ostufer des Flusses beschränkten. Das hatte Rado so eingefädelt. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um sich kurz mit Arpad über die Route zu besprechen. Ich wurde nicht in ihre Beratung einbezogen. Jakob, der sein Bestes tat, um Rotwild für uns aufzuspüren, wurde immer verdrossener und trottete schließlich nur noch mit gesenktem Kopf hinterdrein, ohne sich weiter die Mühe zu machen, im Unterholz nach Spuren zu suchen.
Nicht, daß es an Wild gemangelt hätte. Am Morgen des ersten Tages trafen wir auf einen schönen Bock, aber unerklärlicherweise hatte Arpad vergessen, das Gewehr zu laden, das er dem Oberst reichte, und das Geräusch des einschnappenden Bolzens scheuchte das Tier davon. Beim nächstenmal schoß Rado daneben. Das kann selbst
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