Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roderick Anscombe
Vom Netzwerk:
Wahrscheinlich ist meine Anwesenheit am Schauplatz des Verbrechens erforderlich, um der Verschiedenen angemessenen Respekt zu zollen, aber vor allem, um die Fassade von Recht, Ordnung und Beständigkeit zu wahren angesichts dieser Erschütterung des Sozialgefüges.
    Früher haben sie mich nie gebraucht, wenn ein Zigeuner von seinesgleichen niedergestochen worden war, doch mit Estelles Ermordung hat es eine andere Bewandtnis. Ich hatte mir nicht klargemacht, wie beliebt sie in der Bevölkerung war und für wie viele Mitbürger sie die unbestimmte Sehnsucht verkörperte, unserer provinziellen Enge zu entfliehen.
    Ich habe die braven Abgesandten wissen lassen, daß ich mich unverzüglich an den Tatort begeben würde. Während Jakob mir mein Pferd sattelt, frage ich mich ernsthaft, weshalb ich den Ausweg des Selbstmords eigentlich nicht näher in Erwägung ziehe. Wäre es nicht das Beste, diesem wertlosen Dasein gleich ein Ende zu setzen?
    Dem Vernehmen nach ist ein gewisser Inspektor Kraus mit der Untersuchung des Mordfalls betraut. Auch er möchte mich sprechen. Offenbar meint er, ich könnte ihm bei seinen Nachforschungen behilflich sein. Oder ist es etwa eine Falle? Doch ich bin mir sicher, daß es keine Zeugen gegeben hat. Die ganze Sache fand im dichten Unterholz statt, von zufälligen Blicken abgeschirmt, und verlief praktisch geräuschlos. Ja, ich war sogar so vorausschauend, auf dem Rückweg einen Hasen zu erlegen, damit das Blut an meiner Kleidung keinen Verdacht erregte. Ich erkenne mich selbst in diesem Menschen nicht wieder.

    NACHMITTAG

    Inspektor Kraus ist ein kleiner Mann, wie ein Frettchen oder ein Wiesel oder irgendeines dieser Tiere, die so lange herumschnüffeln, bis sie eine Fährte finden, und dann hartnäckig ihre Beute verfolgen, hinunter ins tiefste Kaninchenloch. Er strotzte förmlich vor Jagdeifer, reckte ständig die Spürnase in den Wind, um Witterung aufzunehmen. Besagte Spürnase springt scharfkantig zwischen dunklen, eng zusammenstehenden Augen hervor, die blinzelnd an ihr entlangspähen. Eine solche Nase ist wie geschaffen dafür, sie in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Seine geringe Körpergröße scheint ihm Kummer zu machen. Vielleicht wird ihm ihretwegen nicht genügend Respekt zuteil. Kraus stellt sich immer auf die Zehenspitzen, um auf gleicher Höhe mit einem zu reden, wobei er in seiner Eindringlichkeit dichter an einen heranrückt, als einem lieb sein kann.
    Ursache dieses ungewöhnlichen Benehmens ist seine fröhliche Mißachtung sozialer Rangstufen; er legt Wert auf Gleichgestelltheit, auf das offene Gespräch von Mann zu Mann, ohne Rücksicht auf störende Etikettefragen. Irgendwie gelingt es ihm trotzdem, nicht unverschämt zu wirken. Tatsächlich empfinde ich sein Auftreten als erfrischende Abwechslung von der kriecherischen Schmeichelei, die ich von seiten der Beamtenschaft sonst gewohnt bin. Aber er ist schon ein seltsamer Kauz. Ich glaube, seine Ungeschliffenheit ist ihm gar nicht bewußt, und da sie keiner kalkulierten Absicht entspringt, erregt sie auch keinen Anstoß, vielmehr fällt sie auf ihn zurück, denn in seiner Humorlosigkeit wirkt er unfreiwillig komisch. Kraus ist einer jener Menschen, die nicht wissen, daß sie nackt durchs Leben gehen, bar der gesellschaftlichen Hülle, die wir anderen benutzen, um unsere wahre Natur zu verbergen.
    Ich ritt den Hügel hinunter und band mein Pferd an der üblichen Stelle am Waldrand fest. Der Regen hatte während der Nacht aufgehört, aber die tiefhängenden Wolken kündigten weitere Güsse an. Während ich über die Weide ging, sah ich einen Polizisten, der vor dem ominösen Dickicht auf und ab patrouillierte, und er geleitete mich so, daß ich mich dem Schauplatz des Verbrechens von der Allee her näherte.
    Im Schatten der Lichtung traf ich erstmals auf Inspektor Kraus. Er tappte rastlos auf und ab, wie ein eingesperrtes Tier. Der Leichnam war weggeschafft worden, aber die Stelle, an der er gelegen hatte, war mit Kalklinien markiert. Er sah aus wie die Überbleibsel eines Kinderspiels.
    »Graf!« rief er, kaum daß er mich sah, und eilte auf mich zu, als wolle er ein Gespräch wiederaufnehmen, das wir beim Frühstück abgebrochen hatte. Ich bot ihm meine Hand, die er mit abwesender Miene schüttelte. »Eine böse Sache ist das«, fuhr er fort. »Wir müssen ihr so schnell wie möglich auf den Grund kommen.«
    »Ganz meiner Meinung. Sie war ein prachtvolles Mädchen, der Stolz seiner Eltern. Und der ganzen

Weitere Kostenlose Bücher