Das geheime Leben des László Graf Dracula
erhaschen, weil sie gerade damit beschäftigt schien, eine junge Frau nach der Gesundheit ihrer sämtlichen Verwandten zu befragen. Mir war unbehaglich, denn ich stand nahe genug bei ihnen, um erkannt zu werden, aber nicht nahe genug, um in die Unterhaltung mit einbezogen zu werden. In diesem Augenblick entdeckte ich das andere Zentrum gesellschaftlicher Aktivitäten im Raum: drei junge Frauen, die von mehreren Männern umringt wurden. Es war klar, daß die eine der jungen Frauen der Mittelpunkt dieser Gruppe war und daß die anderen beiden Damen ihre Freundinnen waren.
Zu spät bemerkte ich, daß die Dame vor mir weitergegangen war und daß Tante Sophie mit mir gesprochen hatte.
»Oder täusche ich mich?« fragte sie gerade. Sie lächelte, als ich um Worte verlegen war und nicht gleich antwortete. »Ich erkenne die Gesichtszüge deiner Mutter und die Farbe deines Vaters.«
»Ich bin László«, sagte ich schlicht, als ich mich schließlich wieder gefaßt hatte.
Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen lächelten nicht. Sie musterte mich aufmerksam, versuchte die Auswirkungen der Jahre auf den Charakter eines Jungen abzuschätzen, den sie vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen hatte.
Vorsichtig hob sie die Wange, damit ich sie küssen konnte.
»Mein Neffe László «, sagte sie und stellte mich der Dame vor, die neben ihr saß. »Er ist ein Wissenschaftler und hier, um bei Professor Charcot zu studieren.«
»Oh?« sagte die Dame verwirrt, so daß weitere Informationen angebracht schienen.
»Meine Schwester war mit Lászlós Vater verheiratet, dem Grafen Dracula.«
»Ach. Tatsächlich?«
»Aber Lászlós Vater starb, als – du noch ein kleiner Junge warst, nicht wahr?«
»Als ich vier Jahre alt war.« In meiner Aufregung war ich drauf und dran, ihr zu gestehen, daß ich seinen Umhang trug, der mir wie ein Handschuh paßte, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.
»Der Graf ist für den Frieden zum Märtyrer geworden«, informierte Tante Sophie die Dame.
»Ein ungarischer Patriot«, fügte ich hinzu. »Er ist bis heute nicht vergessen.«
»Ein Opfer von achtundvierzig«, sagte Sophie beiläufig zu der Dame, die verständnislos nickte.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Schwester haben«, sagte die Dame.
»Sie ist kurz nach unserem letzten Besuch im Schloß gestorben.«
»Wie traurig.«
»An Schwindsucht. Es war eine lange Krankheit. So daß es eigentlich eine Gnade war.«
»Ich freue mich so, Sie wiederzusehen«, brach es aus mir heraus. Ich hatte ihre Hand ergriffen, aber es gelang ihr, sie unter meine zu schieben.
»Fürwahr. Fürwahr«, sagte Tante Sophie und klopfte mit der anderen Hand auf meine, wie man es gewöhnlich tut, um einen fiebrigen Patienten zu beruhigen.
Durch die Erinnerung an die letzten Tage meiner Mutter waren in mir Gefühle geweckt worden. Was ich zu Tante Sophie, der einzigen lebenden Verbindung zu meiner Mutter, sagen wollte, ließ sich schwer in Worte fassen, vor allem hier, in diesem Gedränge und vor all den Fremden. Ich merkte, daß meine Tante über meine Schulter hinter mich sah, wo noch andere darauf warteten, ihr ihre Aufwartung zu machen.
»Du mußt wiederkommen«, sagte sie. Die Audienz war zu Ende. »Wirklich, du mußt versprechen, ganz oft zu kommen. Du gehörst doch zur Familie, und wir müssen uns unbedingt besser kennenlernen!« Sie zwinkerte mit den Augen, ein Zeichen für mich, sie jetzt zu verlassen.
Das Sofa, auf dem Tante Sophie saß, war wie eine Lichtung im Wald, in der man sich im Sonnenlicht sozialer Bedeutung badete, und so schlüpfte ich zurück in den anonymen Schatten der Menge, um mir zu überlegen, wie ich mich Nicole nähern könnte.
Nicole. Sie war verwirrend elegant, einschüchternd, unerreichbar. Ihre strahlenden dunklen Augen, ein wenig vorstehend, genau so, wie ich mich an sie erinnerte, schienen noch größer und verhangener zu sein. Sie trug ein Sommerkleid, kein so förmliches wie ihre Mutter, aber der Schnitt betonte ihren schlanken Hals und ihre Schultern. Anmutig drehte sie sich von einem Gesprächspartner zum anderen, die alle um ihre Gunst wetteiferten. Sie war eine Königin, die hofhielt, und die beiden anderen Frauen waren die Hofdamen.
Sie kann nicht bemerkt haben, daß ich sie anstarrte, weil sie nicht in meine Richtung gesehen hat, aber in einem jener Augenblicke, in denen man fast geneigt ist, an eine unwiderstehliche Anziehungskraft zwischen Mann und Frau zu glauben, warf sie mir einen Blick zu. Ich muß betonen,
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