Das Geheimnis der 100 Pforten
nirgends hin. Darum nahm ich ihn in das kleine Bürokämmerchen mit, das sich mein Vater auf dem Dachboden eingerichtet hatte - dort, wo Henry jetzt schläft. Die beiden Türen waren abgeschlossen, und ich sah zu, wie der Junge sie aufbrach. Dann gingen wir zusammen in Daddys Kammer und sahen alle die Fächer und auch die Bücher, die euer Großvater mitgenommen hatte. Und es gab Notizen, auf denen die Fächer Namen hatten und auf denen erklärt war, wie die kleinen Pforten funktionierten.«
Dotty machte eine Pause. »Der Junge erkannte keinen der Namen wieder, darum öffneten wir die Pforten, eine nach der anderen, gingen hinüber und kehrten wieder zurück. Das taten wir so lange, bis wir an einen … einen sehr unfreundlichen Ort kamen, wo uns jemand festhalten wollte. Aber euer Großvater kam uns zu Hilfe, und es gelang ihm, uns herauszuholen und die Pforte hinter uns zu verschließen. Er war sehr ärgerlich und sagte, dass er ja versuchte, einen Weg zurück zu finden, und dass er dem Jungen helfen würde, sobald er einen gefunden hätte.
Euer Großvater hat aber sein Lebtag lang keinen Weg zurück gefunden. Zumindest hat er das behauptet. Am Ende hat er die Fächer nicht mehr benutzt. Dinge aus der anderen Welt hatten begonnen herüberzukommen, sowohl auf den Dachboden als auch in sein Zimmer. Unerfreuliche Dinge. Eines Tages hat er dann die Kammer auf dem Dachboden nicht mehr abgeschlossen. Und als ich hinaufsah, waren die Fächer komplett verschwunden. Er hatte sie alle unter Putz gelegt.
Auf diese Weise blieb der Junge eine ganze Weile in Henry und spielte weiter Baseball, weil er nicht mehr zurückkehren konnte.«
Im oberen Stockwerk tauschte Frank seine Pyjamahose gegen eine alte grüne Hose mit Taschen an den Beinen, die er auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Er öffnete die oberste Schublade einer alten weißen Kommode und wühlte mit der Hand durch die Stapel von einzelnen Sportstrümpfen mit Ringeln, bevor er ein Fahrtenmesser hervorholte. Er zog die Klinge aus der Scheide und betrachtete, wie sich das Licht in ihr spiegelte. Er hatte dieses Messer bekommen, als er noch sehr jung gewesen war, und es war das einzige Messer im Haus, das er nie geschärft hatte.
Frank befestigte das Futteral an seinem Gürtel und schnappte sich eine alte, von Schweißrändern durchzogene
blaue Baseballkappe mit einem gestickten H auf der Vorderseite.
Auf dem Flur ließ er sich in die Hocke sinken, federte ein paar Mal auf und ab, sprang dann wieder auf und beugte seinen Oberkörper vor und zurück. Dabei atmete er tief ein.
»Francis«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Du bist groß geworden.«
Frank wirbelte herum. Am Fuß der Dachbodentreppe stand eine Frau, nicht allzu groß, aber sehr schön. Sie hielt eine räudige Katze auf dem Arm. Die Katze sah Frank an, aber die blassen Augen der Frau sahen durch Frank hindurch. Sie lächelte und ihre samtige olivfarbene Haut strahlte. Ihr Haar, das schwarz war wie Ebenholz und glatt, zog das Licht des Flures an und schimmerte, wenn sie sich bewegte.
»Wo ist der Junge?«, fragte sie. »In seinem Bett schläft ein anderer.« Sie streichelte ihre Katze. »Einer, der wenig Kraft besitzt.«
Franks Hals war wie zugeschnürt. Er hustete. »Welcher Junge?«
Die Frau lächelte und trat näher. Ihre Stimme klang leise, ein eisiger Hauch. »Der Junge, der neben meinem Käfig wohnt. Der Junge, der mich aus der zermürbenden Dunkelheit erweckt hat. Der Traumwandler. Der Bettelsohn. Ich habe sein Blut gekostet.« Ihre Augen
wurden groß und blickten durch die Wände hindurch, die Frank umgaben. »Was für Blut!«
Franks Hand glitt an seinen Gürtel.
»Ich könnte die Namen seiner Stammväter durch zwei Jahrhunderte hindurch nennen. Du hast mir einen schönen Köder ausgelegt, Francis, fünfter Sohn Amrams. Ein Bluterbe mit genügend Kraft, genügend Leben, um Hoffnung in einer ausgemergelten Königin zu wecken. Wo ist der Junge?«
Die Frau kam näher. Frank wich vorsichtig über den Flur zurück zu Großvaters Zimmer, den Griff des Messers fest umklammert. Er öffnete den Mund, wollte schreien und seine Frau warnen. Aber er brachte keinen Laut hervor. Seine Zunge lag verknotet, verkrampft und steif hinter seinen Zähnen.
Der leichte eisige Hauch ihrer Stimme strich über sein Gesicht. »Deine Augen verraten dich, Francis.« Sie stand jetzt vor ihm. »Du willst ihn warnen? Dann kann er nicht weit sein.«
Frank kämpfte gegen den Knoten in seiner Zunge an, gegen die
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