Das Geheimnis der 100 Pforten
langsamer und sah sich um. Großvaters Zimmertür stand noch immer offen, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein. Dotty blickte zurück auf die beiden Mädchen, die den Atem anhielten.
»Ihr beiden bleibt, wo ihr seid!«, zischte sie.
Vorsichtig ging sie über den Flur zu Großvaters halb offener Tür. Zuerst erblickte sie Blake und dann sah sie Franks Füße. Er lag flach auf dem Rücken. Dotty trat näher und versetzte der Tür einen Schubs. Langsam schwang sie auf, sodass Dotty Franks Beine, seine Hüfte, seine Brust und sein Gesicht sehen konnte. Seine Augen waren geschlossen. Einen Arm hatte er ausgestreckt, der andere lag angewinkelt über seiner Hüfte und seine Hand umklammerte etwas. Es war sein Messer. Die Klinge war rot verschmiert.
Mit einem Keuchen stieß Dotty die Tür ganz auf und lief zu ihm. Sie fiel auf die Knie, berührte seinen Hals und fühlte seinen Puls.
»Dorothy«, sagte eine Stimme.
Dotty wirbelte herum und wurde blass, als sie sah, wer gesprochen hatte. Die Hexe streichelte ihre Katze und starrte über Dottys Kopf hinweg. Sie lächelte.
»Mom?«, klang Anastasias Stimme über den Flur.
»Psst!«, machte Penelope.
Dotty wollte schreien, ihnen zurufen, dass sie weglaufen sollten. Aber ihre Zunge war wie gelähmt.
Die Hexe lachte. »Sie können dich nicht hören.« Ihr Lachen wurde lauter, brach dann aber ab. Sie hustete. Mit jedem Keuchen veränderte sich ihr Aussehen, und Dotty warf einen flüchtigen Blick auf das, was sie schon im Vorhinein erkannt hatte: die schrumpelige Gestalt einer kleinen, blinden Alten. Dotty versuchte, sich aufzurappeln, landete aber nur unsanft auf dem Boden. Erneut versuchte sie aufzustehen, aber ein Gestank wie von faulen Eiern umgab sie und raubte ihr den Atem. Halb aufgerichtet taumelte sie, ihre Knie gaben nach und ihre Arme wurden taub. »Lauft!«, flüsterte sie.
Anastasia und Penelope hatten gesehen, wie ihre Mutter in Großvaters Zimmer verschwunden war. Alles, was sie hörten, war ein Lachen - und dann Husten.
»Mom?«, fragte Anastasia noch einmal.
Penelope biss sich auf die Lippen.
Eine Frau, wie sie noch nie eine gesehen hatten, trat aus der Tür. Sie lächelte traurig und trug eine Katze auf dem Arm. Die beiden Mädchen machten einen Schritt zurück und Anastasia griff nach Penelopes Arm. Die Frau war warm angezogen, wie im Winter, mit einem grauen Mantel. Ihr Hals aber war nackt. Es war ein sehr langer Hals, und sehr dünn. Das Gesicht darüber war ebenso vornehm wie zart, die olivfarbene Haut makellos
und strahlend. Sie war wunderschön, hatte hohe Wangenknochen und eine lange Nase - wie es sich in Anastasias Vorstellung für eine Königin gehörte. Eine Königin, von welchem Land oder Reich auch immer.
»Kinder«, sagte sie sanft. »Euer Vater ist ein wenig außer Atem, aber eure Mutter kümmert sich um ihn.«
Penelope schluckte geräuschvoll. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Nimiane. Ich bin eine Freundin eures Vaters von einem anderen Ort. Er hat mich um meine Hilfe gebeten. Das ist jetzt sehr wichtig: Da war ein Junge. Wisst ihr, wo er ist?«
»Henry?«, fragte Anastasia. »Der ist irgendwo in den Fächern.«
»Können wir zu unseren Eltern?«, fragte Penelope.
»Schon sehr bald«, antwortete Nimiane. »Zeigt mir aber zuerst diese Fächer. Sind das die kleinen Pforten im Zimmer dort oben?«
»Mom?«, rief Penelope. »Können wir kommen?«
»Still! Still!«, sagte Nimiane. »Wir müssen ihnen einen Augenblick Ruhe gönnen.« Sie versuchte, Penelope ins Gesicht zu sehen, blickte dann aber über ihren Kopf hinweg.
»Ihre Katze sieht krank aus«, bemerkte Anastasia.
Die Frau wiegte bedauernd ihren Kopf. »Ja. Meine Katze ist schon lange krank. Aber ich erhalte sie am Leben.«
Anastasia sah der Katze in die Augen. Dann sah sie in das makellose Gesicht der Frau. »Was ist denn mit Ihren Augen?«, fragte sie. »Warum sehen Sie uns nicht an?«
»Meine Augen sind in Ordnung«, sagte Nimiane, und ihre Stimme klang plötzlich barsch. Sie wurde aber schnell wieder sanft. »Ich verfüge über ein wenig Zauberkraft und muss nicht immer ganz genau hingucken, um sehen zu können. Also, könnt ihr mir jetzt bitte diese Fächer zeigen? Ich möchte euch gern ein paar Fragen dazu stellen.«
Anastasia trat schon auf die Dachbodentreppe, aber Penelope rührte sich nicht. »Wir bleiben hier unten«, sagte sie.
»Euer Vater hat um Eile gebeten«, sagte die Frau. »Der Junge, dieser Henry, befindet sich an keinem allzu angenehmen
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