Das Geheimnis der 100 Pforten
bis sie das hoch aufragende Haus am Stadtrand erreichten.
An jenem Abend brachte der Wind schwarze Wolken und der Regen peitschte herab. Zeke erschien pitschnass zum Abendessen - Penelope hatte ihm alles erzählt
-, und die Familie setzte sich um drei Hackbraten herum. Als sie mit dem Essen nahezu fertig waren, sah Dotty zu Frank und hob die Augenbrauen. Frank nickte und legte seine Gabel ab.
»Also«, sagte er und sah von einem zum anderen. »Dies ist eine offizielle Zusammenkunft. Wir haben alle miteinander ein Abenteuer erlebt und dies ist nun sein Ende. Schluss damit, in Fächer hineinzusehen. Schluss damit, durch Pforten hindurchzukriechen.«
»Ich bin sowieso nie durch eines hindurchgekrochen«, sagte Anastasia. »Nicht ein einziges Mal.«
Frank lächelte. »Ich weiß. Und so soll es auch bleiben.« Er sah zu Penelope. »Penny, du bekommst jetzt ein eigenes Zimmer. Deine Mutter und ich ziehen in Großvaters Zimmer.«
Die Kinder blickten auf ihre Teller und Dotty wurde rot. »Frank«, sagte sie, »keiner weiß, wie es passiert ist … Aber während des ganzen Tamtams ist die Tür wieder zugeschlagen.«
»Großvaters Tür?«, fragte Frank. »Sie ist wieder zu?«
Dotty lächelte. »Ja.«
»Henrietta hat den Schlüssel«, sagte Henry. Er setzte sich aufrecht hin und sah sie an.
»Ich hatte ihn«, bestätigte Henrietta. »Aber das ist sehr lange her. Hat ihn vielleicht jemand irgendwo gesehen?«
Anastasia beugte sich über den Tisch. »Sie hält sich in der Scheune ein kleines Nashorn.«
Henrietta seufzte. »Das ist kein Nashorn. Es sieht ein bisschen so aus, aber es ist viel kleiner.«
»Und es hat Flügel«, ergänzte Anastasia. »Ich bin ihr gestern gefolgt. Sie füttert es mit Katzenfutter.«
Zeke sah Henrietta an. »Ist es das, was du auf dem Arm getragen hast?«
Henrietta nickte.
»Tja«, meinte Frank. »Wo wir schon mal alle zusammen sind … Dann geh doch und hol das Nashorn.«
Völlig durchweicht kam Henrietta zurück ins Esszimmer. Auf dem Arm trug sie ein dickes, graues Tier mit wachsamen kleinen Augen. Sie setzte es auf den Tisch und nahm wieder Platz.
Das Tier stand auf allen vieren, schüttelte ein Paar grau gefiederte Flügel aus und sah sich auf dem Tisch um. Es hatte tatsächlich ziemlich genau die Figur eines Nashorns, nur dass es knapp dreißig Zentimeter lang war und Flügel besaß. Es besaß ein kurzes, stumpfes Horn, das am Ende gesplittert und gebrochen war. Sein Bauch hing tief herab, wie bei einem Basset-Hund.
»Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben«, sagte Henrietta. »Und es will einfach nicht fliegen.«
»Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass wir dieses Tier behalten?«, sagte Dotty.
Frank beugte sich vor und versuchte, dem Ding in die Augen zu sehen. »Du suchst doch wohl nicht mich, oder?«, fragte er.
»Was ist das denn für ein Tier?«, wollte Zeke wissen.
Frank richtete sich wieder auf. »Das ist ein Raggant.«
Dotty sah ihn an. »Ein was?«
»Ein Raggant. Ich habe in meinem Leben bisher nur zwei zu Gesicht bekommen. An manchen Orten - Orten, an denen ich mich früher aufgehalten habe - schickt man sie los, um Leute zu suchen. Man kann sie nur ein einziges Mal zum Einsatz bringen. Wenn sie den, den sie suchen sollen, gefunden haben, bleiben sie bei ihm, bis sie sterben.« Er sah zu Henrietta hinüber. »Wo hast du ihn her?«
»Er saß in dem Fach mit den Kompass-Schlössern, hatte von innen dagegengestoßen und sich sein Horn kaputt gemacht. Als ich ihn herausgeholt habe, konnte er sich kaum noch rühren und war so gut wie tot.«
Henry lachte und beugte sich vor. »Du hast den Putz an meiner Wand kaputt gemacht, was? Du hast mit der ganze Sache angefangen?«
Der Raggant sah Henry in die Augen und schnaubte. Er machte einen Schritt auf ihn zu, hob eines seiner Vorderbeine, zeigte damit auf Henry und reckte sich ihm entgegen, bis sein Horn fast sein Gesicht berührte.
»Ha!«, rief Frank. »Er will zu Henry!«
»Was?«, schnaubte Henrietta. »Er gehört mir! Ich habe ihn gefunden und ihn gefüttert und mich um ihn gekümmert!«
»Wir werden ihn ohnehin nicht behalten«, sagte Dotty.
Frank grinste. »Henry aber schon.«
Der Raggant drehte sich um und ging rücklings auf Henry zu. Er setzte sich vor ihn hin, legte die Flügel an und guckte ins Leere.
»Jemand sucht dich, Henry«, sagte Frank.
Henry merkte, wie er nervös wurde.
»Oh, keine Angst«, fügte Frank hinzu. »Soviel ich weiß, sind Ragganten noch nie in böser Absicht eingesetzt
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