Liebeslist und Leidenschaft
1. KAPITEL
Als Nicole den Schlüssel ins Zündschloss stecken wollte, zitterten ihre Hände so heftig, dass er ihr aus der Hand glitt. Nein, sie war einfach nicht in der Verfassung, jetzt Auto zu fahren. Kurz entschlossen stieg sie aus ihrem Mercedes und knallte die Tür zu.
Zum Glück war sie geistesgegenwärtig genug gewesen, sich ihre Handtasche samt Handy zu schnappen, als sie wutentbrannt das Haus verlassen hatte. Die Familienzusammenkunft war die reine Katastrophe gewesen!
Während sie die Auffahrt des Familiengrundstücks verließ, bestellte sie sich telefonisch ein Taxi. Fröstelnd stand sie am Straßenrand und wartete. Wie gut, dass sie ihr warmes Wollkleid anhatte. Sie hatte bei ihrem kurzen Zwischenstopp zu Hause nach der Arbeit nicht mehr die Zeit gehabt, sich umzuziehen.
Eigentlich hatte ihr Vater von ihr verlangt, sich besonders schick zu machen, weil er der Familie beim Abendessen etwas ganz Besonderes zu verkünden hätte. Nur aus Zeitmangel hatte sie es unterlassen und auf sein Verständnis gehofft, weil sie schließlich stattdessen länger in der Firma gearbeitet hatte. Wenn es jemanden gab, der ihren unermüdlichen Einsatz für Wilson Wines zu schätzen wissen musste, dann war doch schließlich er es – Charles Wilson, Gründer und Chef der Firma. Er hatte seine ganze Energie in das Unternehmen gesteckt, und sie hatte eines Tages in seine Fußstapfen treten wollen.
Bis zum heutigen Abend.
Kalte Wut stieg in ihr hoch. Wie hatte ihr Vater sie so demütigen können – und dann noch vor einem fast Fremden? Natürlich, dieser Fremde war ihr lange verschollener Bruder Judd, aber was machte das schon für einen Unterschied? Schließlich lag die erbitterte Scheidungsschlacht ihrer Eltern – und damit die Trennung der beiden Familienhälften – schon rund zweieinhalb Jahrzehnte zurück. Was hatte Judd da für ein Recht, plötzlich aufzutauchen und einfach die Verantwortung über das zu beanspruchen, was sie sich in langen Jahren aufgebaut hatte? Am liebsten hätte sie ihren Zorn laut herausgeschrien. Wie gemein das alles war, wie ungerecht! Konnte man sich denn auf niemanden mehr verlassen?
Sogar Nicoles beste Freundin Anna hatte sie bitter enttäuscht. Letzte Woche war sie aus Adelaide in Australien nach Neuseeland zurückgekehrt – mit Judd im Schlepptau. Natürlich hatte sie Nicole gegenüber beteuert, dass sie nur den Auftrag von Charles ausgeführt hatte – nämlich Judd zu finden und die Versöhnung in die Wege zu leiten. Trotzdem empfand Nicole das Ganze als Verrat. Immerhin hätte Anna ihr reinen Wein einschenken können – darüber, dass Charles vorhatte, dem verlorenen Sohn Judd die Heimkehr mächtig zu versüßen. Auf Nicoles Kosten!
Anna war immer wie eine Schwester für sie gewesen – und jetzt das. Eine kleine Vorwarnung hätte doch genügt. Aber nichts!
Nicoles Handy klingelte. Weil sie dachte, es wäre das Taxiunternehmen, nahm sie das Gespräch an, ohne aufs Display zu schauen.
„Nicole, wo steckst du? Ist mit dir alles in Ordnung?“
Anna. Natürlich, wer denn auch sonst? Ihr Vater würde sie bestimmt nicht anrufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
„Mir geht’s gut“, antwortete Nicole gereizt.
„Nein, dir geht’s gar nicht gut, das höre ich an deiner Stimme. Hör mal, es tut mir leid, was heute Abend passiert ist …“
„Nur was heute Abend passiert ist, Anna? Und was ist mit deiner Reise nach Adelaide? Dass du nach fünfundzwanzig langen Jahren plötzlich meinen Bruder anschleppst, damit er mir alles wegnehmen kann, was eigentlich mir gehört?“
„Nicole, bitte …“, begann Anna schuldbewusst.
„Und ich hatte gedacht, wir wären beste Freundinnen“, unterbrach Nicole sie barsch. „So etwas wie Schwestern.“
„Ich konnte dir einfach nicht erzählen, was Charles vorhatte, Nicole. Bitte glaub mir doch. Dein Dad hatte mich zu absoluter Geheimhaltung verdonnert, und du weißt doch, ich verdanke ihm so viel. Wenn er nicht für meine Mom und mich da gewesen wäre, sogar als sie im Sterben lag …“
„Na schön, dann fühlst du dich ihm gegenüber eben verpflichtet. Und zwar ganz offensichtlich mehr als mir, deiner besten Freundin.“
„Nicole, bitte …“
„Warum hast du mich nicht vorgewarnt? Warum hast du mir nicht gesagt, dass er Judd zum Bleiben überreden will, indem er ihm mein Zuhause und die Firma gibt?“
„Nur ungefähr die halbe Firma“, wandte Anna zaghaft ein.
„Eine Mehrheitsbeteiligung, Anna. Das ist so
Weitere Kostenlose Bücher