Das Geheimnis der Äbtissin
wenn sie von ihrem Lager hochschreckte, verschwanden die Trugbilder sofort. Gewissenhafter als sonst verrichtete sie die Stundengebete des Tages und fügte jeweils eine Fürbitte für die Seele Kaiser Friedrichs und seines vor Akkon gestorbenen Sohnes an.
Guntram verfestigte gemeinsam mit zwei anderen Knechten die Säule. Er hatte sie fragend angesehen, als er den Schutt in der Baugrube entdeckt hatte. Sie zeigte ihm die Blasen an ihren Händen und murmelte etwas von einer Buße, die sie zu verrichten hätte. Daraufhin hatte er stumm den Kopf geschüttelt und sich an die Arbeit gemacht.
Als der Schnee vollständig geschmolzen war, begann beinahe nahtlos der Frühling. Die Sonne leckte die letzten Schneeflecken auf und lockte Huflattich und Schneeglöckchen hervor. Die Luft roch nach Hoffnung und frischem Leben. Im Stall und auf der Weide meckerten neu geborene Lämmchen und staksten auf unsicheren Beinen unter ihren Müttern umher. Unter fröhlichem Gesang putzten die Nonnen die Kirche und das Haus und bereiteten sich auf das Osterfest vor.
Judith hatte das Fenster aus kleinen Waldglasscheiben weit geöffnet. Die hellen Sonnenstrahlen leuchteten jeden Winkel der Zelle aus und zeigten erbarmungslos den Staub des Winters. Eine Novizin hatte am Morgen den Raum gefegt, doch Judith war noch nicht zufrieden. Sie stapelte ihre Pergamentrollen sorgfältig im Regal und schrubbte den Tisch mit Bürste und Seifenwasser. Die hartnäckigen Tintenflecke ließen sich nicht vertreiben, sie verblassten lediglich. Hier würde wohl nur der Tischler mit einem Hobel helfen können.
Die junge Schwester mit dem Reisigbesen stand plötzlich in der weit geöffneten Tür. »Mutter Oberin! Die Priorin schickt mich. Sie sagt, am Tor ist ein Besucher, der nach Euch verlangt.«
Im ersten Moment stockte Judiths Herzschlag, weil sie im Stillen immer Heinrichs Rückkehr befürchtete. Doch den König hätte niemand am Tor warten lassen. Sie atmete tief durch.
»Was will er von mir?«
»Das sagte sie nicht. Sie meinte nur, er sehe aus wie ein Gewürzhändler aus dem Morgenland.«
Ein Gewürzhändler? Kaum wurden die Tage schöner, gingen die Krämer wieder auf Reisen. Brauchten sie Gewürze? Safran vielleicht …
»Darum soll sich Schwester Uta kümmern. Sie weiß, was wir am nötigsten brauchen.« Sie tauchte die Bürste in das Seifenwasser und schrubbte erneut über die Tischfläche.
»Aber er verlangt ausdrücklich nach Euch.« Die Novizin blieb hartnäckig.
Warum zitterte ihre Hand plötzlich so sehr, dass ihr die Bürste entglitt? Ihr Herz setzte einige Schläge aus, um dann wie ein Windhund loszurasen. »Wer in aller Welt …«
»Er sagte etwas von einem Sperling, der den Falken sucht …« Die Novizin umklammerte ihren Besen, als die Mutter Oberin nach Luft schnappte und an ihr vorbei die Treppe hinabsauste.
Der Weg zum Tor erschien ihr endlos. Sie rannte, obwohl das unschicklich war. Den Habit raffte sie mit beiden Händen, um nicht zu stolpern. Die hölzerne Tür war von innen verschlossen, das kleine Fenster nur angelehnt. Ihr Herz klopfte, als wäre jeder Schlag der letzte. Langsam öffnete sie die Luke. Draußen stand ein Mann, von dem sie zunächst nur den ordentlich gewickelten Turban sah, weil er gerade sein Maultier an einen Baum band.
Als er das Fensterchen quietschen hörte, drehte er sich um. Die Blicke aus seinen dunklen Augen fanden die ihren sofort. Er lächelte, und Tausende Fältchen bildeten kleine Sonnen auf seiner braunen Haut.
»Silas!«, flüsterte sie.
Der rostige Riegel gehorchte ihr nicht gleich, es schienen Stunden zu vergehen, ehe die Tür sich öffnete. »Du bist hier? Ich dachte …«
Der Duft nach Nelken und Zimt umfing sie. »Was dachtet Ihr?«, fragte er, und die Melodie seiner Stimme ließ lauter winzige Vögel in ihrem Magen flattern.
»Man sagte mir, du seist im Morgenland geblieben, nachdem der Kaiser … starb.«
Sein spöttischer Blick strafte ihre fadenscheinige Umschreibung der tatsächlichen Ereignisse. Offenbar wusste er Bescheid und glaubte dasselbe auch von ihr. Doch war nicht die Zeit, über gefährliche Geheimnisse zu plaudern. Im nächsten Moment konnte eine neugierige Novizin oder gar Mutter Augusta die Nase zur Tür herausstrecken.
»Suchst du eine Herberge? Eine Nacht oder zwei kannst du im Hospiz verbringen.« Vorfreude erwärmte ihr das Herz. Hätte er nach ihr verlangt, wenn er nicht vorhatte zu bleiben?
»Ich bin gekommen, um Euch zu warnen. König Heinrich ist
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