0456 - Shao - Phantom aus dem Jenseits
Dunkelheit lag über dem Platz, auf dem der Zirkus sein Quartier eingerichtet hatte. Am Himmel ballten sich bereits die ersten Herbstwolken, dunkle Gebilde, vom Wind bewegt, der auch Kälte mitbrachte. Es schien so, als hätte die Natur ein Einsehen mit dieser Gestalt, denn weder der Mond noch die Sterne zeigten sich am Himmel.
Er war eine dunkelgraue, weite Fläche ohne Anfang und Ende.
Das erleuchtete große Zelt, dessen Dachkonstruktion durch bunte Lampen nachgezeichnet wurde, wirkte wie eine helle Insel in der Finsternis. Auch der Eingang mit seinem galerieähnlichen Vorbau war in Licht getaucht. Der Name des Unternehmens leuchtete in großen Buchstaben, die an- und ausgingen.
Das alles hatte die Gestalt bereits aus der Ferne gesehen, als sie sich auf dem nahen Parkplatz zwischen den dort abgestellten Fahrzeugen geduckt hatte.
Jetzt aber befand sie sich schon an der Ostseite des Zelts und suchte nach einem Durchschlupf. Im Innern mussten Clowns ihre Nummer abziehen, denn das Lachen der Zuschauer schallte durch die Plane wie ein unregelmäßiges Brausen nach draußen.
Hinter einer Fahnenstange, die sie als Deckung benutzte, blieb die Gestalt stehen.
Dem Aufpasser oder Wächter wäre sie vielleicht nicht aufgefallen, dafür seinem Begleiter.
Ein Knurren war zu hören!
Der Mann blieb stehen. »Was ist denn, Harry? Was hast du?«
Der Hund hörte nicht auf. Er zog an der Leine, der Mann fluchte, weil er damit nicht gerechnet hatte und fast von den Beinen gerissen worden wäre. Er gab nach und ließ sich vorziehen.
Die wartende Gestalt bewegte sich um keinen Millimeter. Wegen der Maske war nur ihr Mund zu sehen.
Aus dem Knurren wurde ein scharfes Bellen. Ein Signal zum Angriff!
Obwohl der Hund an der Leine geführt wurde, stieß er sich ab. Und er hätte die Gestalt auch erwischt, wäre sie stehengeblieben. So aber bewegte sie sich mit einem gedankenschnellen Schritt zur Seite, und aus dem Dunkel sauste eine leicht gekrümmte Handkante, die den Nacken des Hundes punktgenau traf!
Aus dem wütenden Bellen wurde ein Winseln. Der Hund drehte sich, fiel zu Boden und rollte sich auf den Rücken. Eine Weile zuckte er noch mit den Läufen, dann blieb er still liegen.
Das alles hatte nicht länger als zwei, drei Sekunden gedauert, aber dem Wächter war plötzlich unheimlich zumute. Er gab einen erschreckten Laut von sich und flüsterte stammelnd den Namen seines Hundes. Dabei klang seine Stimme erstickt. Er weinte.
Zwei kalte Augen hinter den Maskenschlitzen beobachteten Mann und Hund aus der schützenden Dunkelheit. Der Gestalt war klar, dass sie den Mann auch ausschalten musste. Er hätte sonst Alarm geschlagen, und das wollte der andere nicht, auf keinen Fall so früh.
Der Wärter hörte nichts, nicht einmal Schritte, er wurde aber fast zu Eis, als er die Stimme vernahm.
»Keine Sorge, ich habe ihn nicht getötet!«
Der Mann kniete da, ohne sich zu rühren. Er wagte es nicht einmal, den Kopf zu heben und nach oben zu sehen. Sein Blick fiel auf den Hund, der, ohne sich zu rühren, vor ihm lag.
Er wusste, dass der andere neben ihm lauerte, und er wurde auch angesprochen. Dabei hatte er vor, sich auf die Stimme zu konzentrieren, doch das gelang ihm nicht. Er konnte diese Stimme nicht orten, sie war einfach da, und sie klang völlig neutral. »Ich will wissen, wo ich das Zelt betreten kann. Nicht durch den Haupteingang.«
Der Wärter war zu geschockt, um eine Antwort geben zu können. Er hatte den Befehl zwar verstanden, allein, er kümmerte sich nicht weiter darum, bis er zusammenzuckte, weil plötzlich eine kalte Hand seinen Nacken zusammendrückte. »Rede!«
Im nächsten Moment sprudelte es förmlich aus dem Mann heraus. Er konnte gar nicht so schnell reden, wie er seine Information loswerden wellte. Er redete und klappte mitten im Satz zusammen, denn wie seinen Hund hatte auch ihn die Handkante zielsicher getroffen.
Der Wächter bekam glasige Augen und rollte nach vorn. Schwer schlug er auf.
Die Gestalt war zufrieden. So lautlos, wie sie herangehuscht war, verschwand sie auch wieder. Diesmal hielt sie sich dicht an der Außenplane. Aus dem Zelt vernahm sie Musik. In die Klänge rauschte der Abschlußbeifall hinein, der den Abgang der Clowns begleitete.
Die unheimliche Gestalt wusste genau, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Der Auftritt der Person, auf die es ihr ankam, schloss sich an die Clownnummer an.
Um den zweiten Eingang zu finden, musste sie fast um das ganze Zelt huschen. Das kostete Zeit.
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