Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
hielt er ja noch mehr Enthüllungen bereit. Gerardo beendete seinen inneren Kampf und bereitete sich darauf vor, weiter zuzuhören. Damit verschob er jede Entscheidung auf den Zeitpunkt, an dem er endlich dieses Haus verlassen würde.
»Als ich in den Orden eingetreten bin«, sagte der Franzose und setzte sich vor die Schüssel mit dem Schmorfleisch, »habe ich das gleiche Gelübde abgelegt wie du, obwohl ich es von Anfang an als sinnlose Einschränkung empfunden habe. Dann hat mich jedoch jemand einer höheren Weisheit teilhaftig werden lassen, und damit waren die Gelübde überholt. Das, was du hier erlebt hast, war keine gewöhnliche Verletzung des Keuschheitsgelübdes, so wie du es definieren würdest. Ich meine damit, dass das, was wir gerade getan haben, keine Sünde war und daher auch keiner Beichte bedarf, um vergeben zu werden.«
Gerardo begriff den Gedankengang, obwohl er ihn als entsetzliche Gotteslästerung empfand. Im Grunde sagte der Kommandant damit, dass für die in das geheime Wissen der Templer Eingeweihten die üblichen Verhaltensvorschriften nicht mehr galten. Und dass nur die Nichteingeweihten den Ordensregeln unterworfen waren. Doch er begriff immer noch nicht, aus welchem Grund Hugues sich entschlossen hatte, ihm solche Geheimnisse anzuvertrauen, die er doch, wie er kurz zuvor behauptet hatte, nicht einmal unter der Folter enthüllt hätte.
»Kommandant«, sagte er, als es ihm gelungen war, den Reigen der wild durch seinen Kopf tanzenden Gedanken ein wenig zu beruhigen. »Warum gerade ich?«
Hugues lachte und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist endlich die richtige Frage!«, sagte er und nickte. »Hast du dich denn nicht gefragt, warum ich bereit war, für einen völlig Fremden eine Bürgschaft zu unterschreiben?«
»Remigio hatte mir gesagt …«
»Lass den Bankier aus dem Spiel, er weiß nichts. Die Wahrheit ist, dass ich dich seit dem Abend treffen wollte, an dem ich erfahren habe, was du mit Angelo da Piczanos Leiche getan hast.«
»Ihr wusstet es schon, bevor ich es Euch erzählte!«, brach es aus Gerardo heraus. »Aber wie konntet Ihr …«
»Das ist einfacher als du denkst. Ich kannte Angelo, und wir haben uns getroffen, als er nach Bologna kam.«
Hugues nahm das Brot vom Topf, warf einen kritischen Blick hinein, holte sich einen mit fetter Soße bedeckten Brocken Fleisch heraus und legte ihn auf eine der Scheiben.
»Also wart Ihr derjenige, den Angelo in der Nacht treffen sollte, als er ermordet wurde!«, rief Gerardo aus.
Hugues schüttelte nur stumm den Kopf und tauchte die Finger wieder in die Soße, dann strich er mit ihnen über das Brot, damit es sie aufsaugte. »Nein. Er hatte mir gesagt, dieses Treffen fände erst einen Tag später statt. Sonst wäre er noch am Leben.« Er verstummte, und seine grauen Augen verfinsterten sich. »Nun gut, sobald ich von dem Brand hörte, bin ich dorthin gerannt. Die Inquisition war bereits vor Ort, aber sie hatten nichts gefunden. Als ich mich umhörte, ist mir klar geworden, dass der dort verschwundene Student, über den alle redeten, auch ein Tempelritter sein musste. Und er musste eine schwierige, gefährliche Aufgabe gemeistert haben, indem er floh und Angelos Leiche nicht in den Händen der Dominikaner zurückließ.«
»Dann seid Ihr also zu Remigio gegangen und habt ihm gesagt, dass er Euch benachrichtigen sollte, falls ich mich an
ihn wenden würde«, sagte Gerardo. »Deshalb hat er so aufgehorcht, als ich ihm sagte, mir wäre ein Unglück zugestoßen.«
»So ungefähr hat es sich abgespielt. Ich muss Euch loben. Ein wacher Verstand ist eine wichtige Voraussetzung für einen zukünftigen Eingeweihten.«
»Ihr habt mir noch nicht geantwortet, Kommandant. Warum wünscht Ihr, dass ich dieses geheime Wissen teile?«
Hugues forderte ihn auf, sich aus dem Topf zu bedienen, doch Gerardo schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Franzosen abzuwenden. Achselzuckend biss dieser in ein Stück Fleisch, das er dann wieder auf die fettige Brotscheibe legte.
»Gott spricht zu uns und bringt uns so auf den Weg, den wir gehen müssen«, sagte er mit vollem Mund. »Bisweilen finden wir dort Prüfungen und Hindernisse vor, die den Charakter stählen. Manchmal auch kleine oder größere Glücksfälle, auf die wir uns aber nichts einbilden sollten. Und manchmal richtet er es so ein, dass wir zur rechten Zeit dem richtigen Menschen begegnen.« Er unterbrach sich kurz und spülte einen Bissen mit einem Schluck Wein aus dem Krug
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