Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
nach seinem Gelübde überwinden musste. Er hatte Monate voller Gebete und geistiger Exerzitien gebraucht, bevor er das unterdrücken konnte, woran sein Körper ihn hartnäckig erinnerte. Schließlich und endlich war es ihm jedoch gelungen.
Hatte er jedenfalls geglaubt. Nun aber musste er feststellen, dass dem nicht so war.
Allein der Gedanke, man könnte die Ordensregeln im Namen
einer höheren Weisheit, die den meisten verwehrt blieb, brechen, ohne damit eine Sünde zu begehen, hatte genügt, dass sein Kopf sich beharrlich damit beschäftigte. In diesen Tagen hatte Gerardo sich oftmals die Frage gestellt, was er eigentlich vom Leben wollte. Dabei hatte er zum ersten Mal angezweifelt, dass er wirklich zu einem Mönchssoldaten bestimmt war, der die Christenheit verteidigen sollte. Aber noch hatte er keine Antwort darauf gefunden, was er dann anstrebte.
Nun lief er schon die kompliziertesten Umwege durch mit Schlamm, Exkrementen und Unrat bedeckte Gässchen, nur um nicht an Fiamma vorbeikommen zu müssen. Zugleich ersehnte er sich nichts anderes, und wenigstens einmal am Tag gab er diesem Verlangen nach und ging die Hauptstraße entlang, die von der Porta Ravegnana in das Viertel um Sancta Hierusalem führte.
Als er die Gasse verließ, nahm er die Hand von Mund und Nase und konnte endlich wieder frei atmen. Er vermied es, noch einmal in dem Gasthaus vorbeizuschauen, um keinen Verdacht zu erregen. Am ersten Tag war er dort hineingegangen, hatte sich als einer der vielen Schaulustigen ausgegeben und Fragen über den Mord an Wilhelm von Trier gestellt. Der Wirt wurde von einem Haufen Leuten bedrängt, die alles über den Templer und das Herz aus Eisen wissen wollten; deshalb hatte er auch nicht bemerkt, dass Gerardos Fragen zielgerichteter waren als die der anderen Neugierigen. Bereitwillig hatte er Gerardo und fünf oder sechs anderen Personen um ihn herum, die ihm gespannt zuhörten, erzählt, wie der Deutsche angekommen war und ein Zimmer für sich allein verlangt hatte, dass er am Nachmittag das Wirtshaus verließ, dass er aber nicht gesehen hatte, dass er zurückgekommen war.
»Ein streunender Hund war in den Hühnerstall eingedrungen«, berichtete der Wirt, hocherfreut, dass er noch einmal sein Abenteuer erzählen konnte. »Ich habe gehört, wie
die Hennen gegackert haben und bin schnell raus, um nachzuschauen. Ich bin mir sicher, dass der Mörder den Hund da reingeschickt hat, damit er ungesehen in das Zimmer des Deutschen schlüpfen konnte. Genau in der Zeit, die ich bei den Hennen verbrachte, muss auch mein Gast zurückgekommen und ins obere Stockwerk hinaufgegangen sein.«
»Wer hat die Leiche entdeckt?«, fragte ein pickeliger junger Mann.
»Eine Frau, die bei mir sauber gemacht hat.«
»Vielleicht können wir uns auch noch von ihr erzählen lassen, was sie gesehen hat?«, fragte Gerardo.
»Sie arbeitet nicht mehr hier. Sie hatte zu viel Angst.«
»Wo wohnt sie?«
»Irgendwo an der Via Galliera, hinter dem Campo del Mercato.«
Gerardo hatte sich den Namen der Frau nennen lassen und war noch am gleichen Nachmittag zu ihr gegangen. Mit ein wenig Geld hatte er sie dazu gebracht, ihm alles zu erzählen, was sie bereits den Männern des Capitano del Popolo gesagt hatte. Leider erfuhr Gerardo nicht viel mehr, als dass sie nach dem Vespergeläut einer Erledigung wegen aus dem Haus musste und dass sie sich vom Stallknecht des Gasthauses hatte begleiten lassen, einem kräftigen jungen Mann, der sie zur Not beschützen konnte. Sie habe den Deutschen vor der Kirche San Giovanni in Monte gesehen, wie er mit einem Bettler sprach, dem eine Hand fehlte, sagte sie weiter, und dass dieser Bettler sich meistens in dieser Gegend aufhielt.
Sie erinnerte sich auch, wie der Mann, der trotz seines fortgeschrittenen Alters groß war, sich zu dem Bettler hinunterbeugte, als wollte er ihm zuhören. Sonst wurden Bettler mit wenigen Worten, einem Almosen oder einem Fußtritt abgefertigt, und sie habe sich gewundert, dass dieser Deutsche sich so viel Mühe gab, den Klagen des Krüppels zu lauschen.
Gleich darauf sei dieser in Richtung Wirtshaus zurückgegangen.
Als sie am nächsten Morgen die Tür zu seinem Zimmer öffnete, um dort den Boden zu fegen, sah sie ihn auf dem Strohlager liegen, mit geöffnetem Brustkorb und einem Herzen, das sich in einen Block Eisen verwandelt hatte.
Vermutlich hatte die Begegnung zwischen Wilhelm von Trier und dem Bettler keine Bedeutung, aber man konnte nie wissen. Gerardo hatte ihn sich von
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