Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
nicht, dass sie dumm oder unwissend sind. Die Weisheit von Ungläubigen kann tief sein.«
»Und was hat das hebräische Alphabet damit zu tun?« Hugues belächelte seine Ungeduld. »Ich komme gleich dazu.« Er streckte eine Hand aus und öffnete die Anrichte hinter sich. Er entnahm ein Blatt Konzeptpapier und was er zum Schreiben brauchte. Dann füllte er das Blatt mit zwei Reihen geheimnisvoller Zeichen; Gerardo sah ihm schweigend dabei zu.
Als er damit fertig war, drehte er das Blatt zu ihm und zeigte ihm die beiden Zeichenfolgen:
»Die untere Zeile ist in entgegengesetzter Reihenfolge geschrieben«, sagte Gerardo, nachdem er sich Zeichen angesehen hatte.
»Richtig. Es handelt sich um eine hebräische Geheimsprache, die nach den ersten und letzten beiden Buchstaben ihres Alphabets Atbash genannt wird. Die Buchstaben werden erst von rechts nach links geschrieben, dann von links nach rechts. Danach nimmt man ein Wort und ersetzt jeden Buchstaben darin mit dem aus der untenstehenden Reihe.«
»Das Ergebnis ist ein ganz anderes Wort«, meinte Gerardo, »und nur für den verständlich, der den Code kennt.«
»Was für ein heller Kopf du bist«, sagte Hugues lächelnd und nickte zustimmend. »Tatsächlich ist sie sehr einfach zu entschlüsseln, aber man muss die Ausgangssprache kennen. Und das ist ein Geheimnis, das niemand von uns den Inquisitoren enthüllen wird, nicht einmal unter den schlimmsten Folterqualen.«
»Warum?«
»Nehmen wir das Wort Baphomet«, sagte Hugues und deutete auf einige Zeichen aus der oberen Reihe. »Im Hebräischen besteht es aus fünf Buchstaben: Taw, Mem, Vaw, Pe, Beth.«
Er zeigte auf die Buchstaben und übertrug sie darunter.
»Von rechts nach links gelesen, wie bei den Juden üblich, ergibt das BA.PH.O.ME.T. Jetzt nehmen wir diese Buchstaben und tauschen sie mit denen aus der Zeile darunter aus.« Er deutete immer kurz mit der Feder auf die entsprechenden Buchstaben, dann übertrug er sie unter die ersten fünf.
Er betrachtete sie einen Moment lang mit seltsamer Ehrfurcht, bevor er las: »Aleph, Jod, Pe, Waw, Schin. Oder von rechts nach links gelesen: S.O.P.H.I.A.«
»Die Göttin der Weisheit!«, rief Gerardo überrascht aus.
»Genau. Und jetzt sag mir, wie es Ketzerei sein könnte, der Weisheit zu huldigen?«
»Aber das muss man dann doch auch dazusagen!«, rief Gerardo noch einmal laut. Er war erregt, und sein Gesicht brannte wie im Fieber. »Man muss den Inquisitoren die Geheimschrift entdecken und zeigen, dass kein Übel darin ist.«
Hugues de Narbonne schüttelte den Kopf. Seine grauen Augen sahen ihn traurig an: »Unser Orden ist bereits verurteilt, gib dich keinen Illusionen hin. Wir sind sogar für unser eigenes Wohl zu mächtig geworden. Wir können nichts sagen oder tun, um dieses Schicksal abzuwenden. Alles, was uns zu tun bleibt, ist, das Wissen in Sicherheit zu bringen, das uns anvertraut wurde.«
Gerardo griff instinktiv nach dem Krug und trank einen großen Schluck Wein. Hugues tat es ihm nach; dann setzte er zu einer langen Erklärung an, die von eindringlichen Blicken und schnellen Schlucken aus dem Krug begleitet wurde. Er
erzählte über die griechische Göttin Sophia, ihren Ursprung in der Anima Mundi , der Weltseele der Gnostiker, über die Große Mutter, die der Welt das Leben schenkt und die größer ist als der Erlöser selbst, denn ohne sie gäbe es nicht einmal eine Welt, um sie zu erlösen, und also auch keinen Erlöser. Er schloss mit den Worten, dieses göttliche weibliche Prinzip würde in der christlichen Religion von Maria Magdalena, der Ehefrau Christi, verkörpert.
»Christus war unverheiratet!«, schrie Gerardo, schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang völlig außer sich auf. »Und die Magdalena war eine …«
»Sprich es nicht aus!« Hugues schnellte hoch, beugte sich über den Tisch und packte ihn am Hals. »Schmähe die Heilige Mutter nicht.«
Gerardo war vollkommen überrascht - nicht, weil die Reaktion des Franzosen so schnell war und heftig ausfiel, sondern wegen der unerwarteten Leidenschaftlichkeit in den Worten des Franzosen, der sich sonst so abgeklärt äußerte.
In diesem Moment klopfte es. Hugues ließ Gerardos Hals los, richtete sich auf und ging zur Tür. Aus der Küche waren Worte und unterdrücktes Kichern zu hören, dann kehrte der Kommandant in Begleitung einer etwa dreißigjährigen Frau zurück, die ein ärmelloses graues Übergewand über einer tief ausgeschnittenen Leinentunika trug und ihre kupferroten
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