Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
hinunter. »Wir, die wir noch die wahre Weisheit im Heiligen Land erfahren haben, werden alt«, fuhr er fort. »Viele von uns sind inzwischen gestorben. Wir brauchen frisches Blut, damit die Fackel nicht verlöscht. Deshalb werde ich, wenn das alles hier beendet ist, mein ganzes Wissen mit dir teilen, falls du das möchtest.« Er nahm sein Stück Fleisch wieder auf und deutete auf den Topf. »Aber nun iss. Für die Aufgabe, die ich dir übertragen will, wirst du deine ganze Kraft benötigen.«
Als er an die Baustelle der Basilika von San Giacomo Maggiore kam, die an der Straße nach San Donato errichtet wurde, blieb Mondino neben einer Reihe von Steinmetzen stehen, die auf dem Boden saßen und an den Kapitellen der Säulen arbeiteten. Er machte mühelos den Baumeister aus, einen kräftigen Augustinermönch
mit einem langen grauen Bart, der auf einem Steinquader stand und die Arbeiten überwachte.
Als er ihn rief, wandte sich der Mönch ruckartig um, sprang hinab und lief ihm zwischen den Steinquadern und den Balken entgegen, die den kleinen Platz vor der Kirche ausfüllten.
» Pax vobiscum , Magister«, sagte er und schüttelte den Staub von der Kutte. »Bitte entschuldigt meine nachlässige Kleidung.«
» Et cum spiritu tuo «, erwiderte Mondino. »Ich sehe, dass Ihr gut vorwärtsgekommen seid, Pater Paolo. Wann wird das Dach gedeckt?«
Der Mönch wandte sich mit beinahe väterlichem Stolz wieder der Baustelle zu. Die vier äußeren Ecken waren bereits fertiggestellt und wurden durch Mauerabschnitte verbunden, zwischen denen Maurer und andere Handwerker ihrer Arbeit nachgingen.
»Bevor ich auch nur an das Dach denken kann, werden noch mindestens zwei Jahre vergehen«, sagte er versonnen, als würde er schon die vollendete Basilika vor sich sehen. »Aber sagt, womit kann ich Euch dienen?«
»Eigentlich dachte ich, dass ich Euch nützlich sein könnte. Oder besser gesagt Eurem Vetter Francesco.«
Der Mund des Mönches öffnete sich zu einem fast perfekten O. »Meinem Vetter. Aber woher …«
Mondino lächelte wohlwollend. »Einer meiner Schüler kennt ihn und hat mir seinen Namen genannt. Wie Ihr wisst, können bei einem Hodenbruch jederzeit wichtige Organe abgeklemmt werden, und das kann für den Patienten lebensbedrohlich werden. Deshalb sollte man ihn besser so schnell wie möglich entfernen, als dieses Risiko weiter einzugehen.«
Der Baumeister sah überrascht aus, doch auf seinem jung gebliebenen Gesicht zeigte sich kindliche Freude. »Meint Ihr damit wirklich, dass Ihr selbst die Operation durchführen würdet?
Francesco wird sehr glücklich darüber sein. In letzter Zeit bereitet ihm sein Bruch große Schmerzen.« Auf einmal verfinsterte sich seine Miene jedoch, und er fasste sich verlegen an den Bart. »Aber ich fürchte, dass wir uns das nicht leisten können …« Er unterbrach sich, um zwei Arbeitern, die unter einem dicken Balken standen, der von einem Flaschenzug in die Höhe gehievt wurde, zuzurufen, sie sollten sich aus der Gefahrenzone begeben. Die beiden gingen gemächlich ein paar Schritte zur Seite.
»Vor drei Wochen ist ein Seil gerissen, und einer von ihnen ist dabei umgekommen, dennoch lernen sie nicht daraus«, sagte er kopfschüttelnd. »Aber um auf meinen Vetter zurückzukommen …«
»Macht Euch keine Sorgen wegen des Geldes«, sagte Mondino, der diese Frage vorhergesehen hatte. »Da mir aus Forschungszwecken an dieser Operation liegt, werde ich von Eurem Vetter nur ein Drittel meines üblichen Honorars verlangen.«
Das Gesicht des bärtigen Mönches erstrahlte. »Danke, Magister. Das ist wirklich ein Geschenk des Himmels.«
»Wir wollen nicht übertreiben.«
»Das meine ich ernst. Francesco hatte wirklich an Euch gedacht, als man ihm sagte, dass man den Hodenbruch operieren sollte. Aber da er wusste, das er sich Euer Honorar nicht leisten konnte, wollte er sich an Bertruccio oder Ottone wenden, die nach Eurer Methode vorgehen.«
Bertruccio Lombardo und Ottone da Lustrulano waren die einzigen Schüler Mondinos, die diese Operation durchzuführen in der Lage waren, ohne dass der Patient dabei an Sepsis oder Blutverlust starb. Mondino war überrascht, dass der Baumeister von der Neuerung wusste, die er in der Behandlung von Hodenbrüchen eingeführt hatte, aber dann fiel ihm ein, dass dies nicht so überraschend war: Die Männer der Kirche
kämpften zwar beharrlich gegen den Fortschritt der Wissenschaft, aber sie war gern bereit, davon Gebrauch zu machen, wenn er ihnen
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