Das Geheimnis der Apothekerin
zumindest ich« – er lächelte seiner Frau zu – »komme allmählich in die Jahre. Wir müssen an die Zukunft denken.«
Lilly hätte beinahe ihren Tee verschüttet. »Aber Charlie hat eine Familie«, sagte sie rasch. »Uns.«
»Natürlich hat er das, meine Liebe«, beschwichtigte Tante Elliott sie. »Und daran soll sich auch nichts ändern.«
»Es kommt neuerdings relativ oft vor, wisst ihr«, sagte Onkel Elliott, »dass jemand einen Erben adoptiert. Es ist recht üblich heutzutage.«
Lilly murmelte: »Das wusste ich nicht.«
»Wir wollen ihn euch ja nicht fortnehmen«, versicherte ihr Tante Elliott und sah dann ihren Schwager an. »Wir könnten eine Besuchsregelung vereinbaren, mit der alle zufriedengestellt sind. Vorausgesetzt, du und Charles seid grundsätzlich einverstanden.«
»Habt ihr denn keine anderen nahen Verwandten?«, fragte Lilly, die allmählich in Panik geriet.
Onkel Elliott rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her. »Ich habe eine junge Cousine, die eventuell passend wäre – wenn sie nicht so ein unangenehmes Wesen hätte. Aber ein Neffe wäre ohnehin meine erste Wahl. Und schließlich, Charles, ist es der Sohn meiner Schwester.« Er strahlte sie beide an, als könne sich ihre ungläubige Verzweiflung dadurch in Luft auflösen.
Als Lilly in das lächelnde Gesicht Jonathan Elliotts blickte, kam ihr in den Sinn, wie seltsam es doch war, dass dieser stattliche Mann in mittleren Jahren der Bruder ihrer Mutter war. Er wirkte sehr viel älter als seine Schwester Rosamond, die immer ausnehmend zart und hübsch und vor allem sehr jugendlich gewesen war. Bis auf das dunkle Haar und die braunen Augen konnte sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter feststellen – weder auf dem Porträt noch in ihrer Erinnerung.
Der Gedanke daran, dass Charlie sie verlassen und nur noch gelegentlich besuchen würde, erfüllte sie mit Grauen. Ihr kleiner Bruder sollte ohne Vater in London leben? Ohne Mary und Mrs Mimpurse? Und ohne sie ?
Sie blickte hilfesuchend zu ihrem Vater hinüber. Ganz sicher würde er das Ansinnen der Elliotts mit unmissverständlichen Worten ablehnen. Jedenfalls hoffte sie das. Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke. War dies vielleicht die Gelegenheit für Charlie, um die sie immer gebetet hatte? Mit den finanziellen Mitteln ihres Onkels und ihrer Tante konnte er auf eine geeignete Schule gehen, auch wenn Vater behauptete, dass es für Jungen wie Charlie keine Schule gäbe. Vielleicht fand er ja sogar einen erfahrenen Lehrer, der ihm helfen konnte, in seinen Grenzen denken zu lernen und … nun ja … erwachsen zu werden.
Lilly stand auf. »Vater, könntest du mir bitte kurz unten helfen?«
»Bitte? O ja, natürlich.« Er erhob sich. »Entschuldigt uns einen Moment.«
Er folgte ihr hinunter in die Labor-Küche.
»Ich weiß, was du denkst, Lilly«, fing er an, bemüht, leise zu sprechen.
»Wirklich? Ich denke, das könnte die Gelegenheit für Charlie sein.«
Er sah sie misstrauisch an.
»Ja, ich weiß«, fuhr sie fort, »meine erste Reaktion war auch, es ihnen abzuschlagen und unseren Charlie hier bei uns zu behalten. Aber das wäre egoistisch, meinst du nicht? Sollten wir Charlie denn nicht alle Möglichkeiten geben zu lernen und sich weiterzuentwickeln? Mr Marsh konnte wenig für ihn tun. Du und ich haben es versucht, aber in London gibt es vielleicht neue Schulen, neue Lehrer oder neue Methoden, die wir hier in Bedsley Priors noch jahrelang nicht haben werden. Bitte, lehn doch ihr Angebot nicht nur aus Rache ab.«
Er schnaubte. »Ein anderer würde sich vielleicht dafür rächen wollen, dass seine Frau praktisch aus ihrer Familie ausgeschlossen wurde, nur weil sie ihn geheiratet hat.« Unwillkürlich wurde er lauter. »Und dafür, dass diesem Ausschluss ein fast zwanzigjähriges kaltes Schweigen folgte, das erst ein Ende fand, als sie bei ihm auftauchten und ihn um eins seiner geliebten Kinder …« Er brach ab, fuhr sich mit der Hand durch das allmählich sich lichtende rotbraune Haar und senkte seine Stimme wieder zu einem Flüstern herab. »Aber wenn ich wirklich glauben könnte, dass es gut für Charlie ist …«
»Vater, ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber …«
Er packte sie an den Armen. »Lilly, ich mache mir keine Sorgen um Charlie. Jedenfalls nicht so, wie du denkst. Ich mache mir keine Sorgen, weil er uns vielleicht verlässt, das wird er nie. Ich mache mir Sorgen, weil möglicherweise Hoffnungen in ihm geweckt werden, die sich dann nicht
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