Das Geheimnis der Apothekerin
mir herauf, aber ich nahm ihn kaum wahr. Stattdessen entzifferte ich den Namen des Bootes, der in schmucken Lettern auf die Seite gemalt war: Zigeunermädchen . Wie passend , dachte ich. Das Gesicht der Frau konnte ich noch immer nicht erkennen.
Ich drehte mich um und lief auf die andere Seite der Brücke, von wo aus ich hoffte, einen besseren Blickwinkel zu haben, sodass ich sie im Vorbeifahren von der Seite sehen konnte.
Vielleicht ist ihr gar nicht bewusst, wo sie sich befindet, dachte ich. Sie wirkte völlig in ihr Buch vertieft. Sollte ich sie rufen?
Doch ich starrte sie nur weiter an. Ich hatte Angst, mich vor dieser Frau und vor den Männern, die in der nahegelegenen Sägemühle arbeiteten, lächerlich zu machen. Wenn ich doch nur einen einzigen Blick auf ihr Gesicht werfen könnte …
Ich blinzelte in dem Versuch, meinen Blick schärfer zu stellen. Da hörte ich ganz schwach eine Stimme. Jemand rief meinen Namen.
»Lilly!«
Das Boot fuhr weiter, den Kanal hinunter. Die Frau entschwand meinem Blick. Schau doch hoch , flehte ich im Stillen. Bitte, schau zu mir her!
Plötzlich schaute die Frau tatsächlich auf, aber sie sah nicht zu mir herüber, sondern zu dem Mann mit dem Pferd. Hinter mir hörte ich Schritte, die rasch näher kamen. Die Stimme klang drängend. Rief sie etwa nach mir?
»Lilly!«
»Hier bin ich!«, antwortete ich.
Als sie meine Stimme hörte, wandte die Frau sich um. Die Sonne schien sie zu blenden, denn sie legte eine Hand über die Augen. Als sie mich sah, zogen sich ihre Brauen verwirrt zusammen. Ich hob die Hand und winkte.
Langsam, zögernd hob die Frau ebenfalls eine Hand. Nicht einfach nur grüßend, sondern in einer Art feierlichem Gruß. Dabei sah ich endlich ihr Gesicht – es war das Gesicht einer Fremden, ein einfaches, freundliches Gesicht. In der Hand hielt sie kein Buch, sondern ein Kleidungsstück. Sie hatte genäht.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und schüttelte mich. »Lilly?«
Noch ganz benommen löste ich meinen Blick von der langsam meinen Augen entschwindenden Gestalt und wandte mich um. Vor mir stand mein jüngerer Bruder Charlie. Er war völlig außer sich und atmete schwer. »Ich habe dich gerufen. Warum hast du mir nicht geantwortet?«
»Ich … ich dachte …« Ich blinzelte meine Vision fort und sah stattdessen seine geweiteten Augen, sein verängstigtes, tränenüberströmtes Gesicht. »Charlie, was ist denn los?«
»Es ist wegen Mary. Sie zittert so schrecklich. Vater schickt mich. Er braucht …« Er hielt inne, den Blick starr in die Luft, über mich gerichtet.
»Was braucht er?« Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich packte ihn an den Oberarmen, verzweifelt über seine mangelnde Fähigkeit, sich zu konzentrieren und zu erinnern.
Er stöhnte und biss sich auf die Unterlippe.
»Baldrian?«, schlug ich vor. »Ysop?«
Er schüttelte den Kopf. Die Augen hatte er zugekniffen in dem Versuch, sich zu konzentrieren.
»Moschussamen? Pfingstrose?«
»Pfingstrose!«, rief er. »Ja!«
Ich glaubte ihm nicht. »Aber die Pfingstrosentinktur steht doch im Regal. In dem Fläschchen mit der Aufschrift S: Poeniae .«
»Vater sagt, es ist leer!«
O Gott, nein .
»O Lilly! Sie zuckt so furchtbar. Muss sie sterben?«
»Nein!«, zischte ich, lief los und rief noch über die Schulter zurück: »Sag Vater, er soll Wasser aufsetzen!«
Ich kannte nur einen einzigen Ort, an dem ich Pfingstrosenwurzel bekommen konnte. Sie wuchsen in einem nahegelegenen Garten. Der Schweiß brach mir aus, nicht vor Anstrengung, sondern vor Angst. Angst um meine älteste Freundin. Angst um mich selbst. Angst, mit dem Betreten des Gartens das Gesetz zu brechen und seinen Zorn zu riskieren. Aber er war ja weit fort auf der Universität, oder nicht? Gott, lass ihn weit weg sein …
Ich rannte.
Ich war schon immer gern gerannt, durch das Tal oder auch die Kreidefelsen hinter Bedsley Priors hinauf. Doch diesmal machte es mir keine Freude. Diesmal rannte ich, weil ich keine andere Wahl hatte. Es würde viel zu lange dauern, nach Hause zurückzukehren und das kleine Ruderboot zu nehmen. Mrs Mimpurse hatte mich immer wieder ermahnt, nicht durch das Dorf zu rennen. Sie meinte, ich sei jetzt praktisch eine junge Dame und müsse mich auch wie eine solche benehmen. Doch ich wusste, dass unsere freundliche Nachbarin mich diesmal nicht ausschimpfen würde, weil ich rannte, denn Mary war ihre Tochter.
Ich lief die Sands Road hinauf und bog hastig nach rechts in die High Street ein.
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