Das Geheimnis der Apothekerin
bedauernd an.
»Bist du wirklich so klug, wie dein Bruder gesagt hat?«
3
In der Bartholomew Lane wird morgens und um drei Uhr nachmittags
ein Getränk mit Namen Kaffee verkauft. Kaffee schließt den Magen,
hält die Wärme im Körper und macht das Herz leicht.
London Public Advertiser, 1657
Am folgenden Morgen saß Lilly auf ihrem gewohnten Stuhl in der Küche des Kaffeehauses. Dies war ihr Platz solange sie denken konnte – und ihr Erinnerungsvermögen reichte wirklich sehr weit zurück. Aus der Spülküche nebenan drangen rhythmische Scheuergeräusche und hin und wieder ein helles, blechernes Klingen – Jane, das Küchenmädchen, ging ihrer Arbeit nach. Zu diesen regelmäßigen, leisen Hintergrundgeräuschen erzählte Lilly ihrer Freundin Mary, die am Arbeitstisch stand und Ingwerkekse schnitt, von dem Besuch der Elliotts. Charlie saß, ohne sie zu beachten, an dem kleinen Tisch in der Ecke und puhlte die Körner aus einem Kümmelbrötchen. Er zählte sie und legte sie dann fein säuberlich auf einen Teller.
»Wenn du sie nicht magst, brauchst du sie nicht zu essen, Charlie«, sagte Mary. Ihre Stimme und ihre runden, hellblauen Augen verrieten zugleich Ärger und Zuneigung.
»Siebenundneunzig Körner, Mary. Das ist gut, richtig gut.«
Mary strich sich mit dem Handrücken eine rotblonde Strähne aus dem hellen, pausbäckigen Gesicht. »Du weißt, dass es mir nicht gefällt, wenn Schindluder mit meinem guten Gebäck getrieben wird. Gib die Körner wenigstens den Vögeln, ja?«
Charlie nickte. »Vögel mögen Körner.« Er zog sich den Mantel an, nahm den Teller und ging damit hinaus in den Küchengarten.
»Vergiss nicht, den Teller zurückzubringen«, rief Mary ihm nach.
Trotz des kühlen Herbsttages war es in der Küche wie immer wunderbar warm, deshalb stand das Fenster weit offen. Lilly sah, dass ihr Bruder sich auf eine Bank darunter gesetzt hatte, und hörte, wie er noch einmal von vorn zu zählen anfing: »Eins, zwei, drei …«
Enttäuscht schüttelte sie den Kopf.
Mary sagte leise: »Ärgere dich nicht über Charlie. Vielleicht findet er eines Tages eine Stelle in einem Kontor und wird reicher als die Marlows.«
Plötzlich hörte Lilly vom offenen Fenster her rasche Schritte auf den Steinplatten des Gartenwegs. Eine weibliche Stimme sagte in angespanntem, verkniffenem Ton: »Charlie Haswell, du bist ein Schleimer und ein Kriecher und ein Spion.«
Lilly blieb die Spucke weg. Sie drehte sich um und wollte zur Tür gehen. Doch Mary legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf, den Finger an den Lippen.
»Wenn du irgendjemand sagst, was du gesehen hast …«
»Ich hab nix gesehen«, sagte Charlie. »Ich stand hinter 'nem Baum.«
»Dann eben gehört. Oder zu hören geglaubt hast.« Das Mädchen versuchte zu flüstern, aber sie war so erregt, dass sie unwillkürlich die Stimme hob. Lilly erkannte Dorothea Robbins. »Ich sage dir, er durfte nicht mehr, als meinen Handschuh küssen. Verstehst du, was ich dir sage?«
»Ja, Miss.«
»Versprich mir, dass du nichts sagst. Dass du nicht einmal meinen Namen erwähnst.«
»Gut, Miss.«
Aus Frustration wurde ihre Stimme noch höher. »Was hattest du überhaupt im Wald zu suchen?«
»Nix. Ich saß einfach nur da und hab gezählt.«
»Gezählt? Was denn gezählt?«
Lilly und Mary wechselten einen verständnisvollen Blick.
»Rote Blätter an den Bäumen.«
»Wozu um Himmels willen hast du das gemacht?«
»Einfach so.«
Miss Robbins Stimme klang ungläubig. »Aber das ist doch nicht normal.«
»Doch, Miss. Bäume sind völlig normal. Deswegen mag ich sie ja.«
Die Schritte gingen, wie sie gekommen waren. Als das Geräusch verklungen war, ging Mary zur Tür und machte sie auf.
»Ist alles in Ordnung, Charlie?«
Lilly konnte das Zögern in seiner Stimme hören. »Äh … ja, Mary.«
»Hast du die Vögel gefüttert?«
»O … ja.«
Lilly stand auf und trat zu Mary an die Tür. Sie sah, dass Charlie auf den Fersen kauerte und sich Kümmelkörner von der Hose bürstete.
»Wiedersehn«, sagte er und entfernte sich in seinem eigentümlichen, leicht torkelnden Gang.
»Charlie?«, rief Lilly ihm nach.
Er drehte sich um und sah sie beunruhigt an.
Lilly biss sich auf die Lippen. »Nichts. Bis nachher.«
Die beiden jungen Frauen kehrten an ihre Plätze am Arbeitstisch zurück.
Lilly fing an, an ihrem eigenen Kümmelbrötchen herumzupulen. »Der Mann, mit dem Miss Robbins im Wald war, war wahrscheinlich Francis.«
Mary hielt den
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