Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
seine Täuschung letzten Endes aufgegeben, was ihm die Fürsten wohl nicht
danken würden. Denn weil er seine Täuschung aufgegeben hatte, war Raoul de Saint Rémy entkommen.
Noch ehe dem Burggrafen eine unverfängliche Antwort einfallen konnte, brachte ihn ein langgezogener, gequälter Schrei, gefolgt vom nächsten und vom nächsten, aus der Fassung. Blutleer bis in die Lippen, sprang er auf, griff nach seinem Schwert und stürzte zur Tür. Was immer in dieser Hütte auch vor sich gehen mochte, das würde er jetzt herausfinden!
Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als ein harter Griff ihn an der Schulter packte. »Lasst gut sein«, sagte Lothar leise. »Die Frauen wissen, was zu tun ist. Ihr könnt hierbei nicht das Geringste ausrichten und werdet nur im Weg sein.«
Widerstrebend machte Bandolf kehrt.
Eine Weile herrschte Schweigen. Die Stille, die den gedämpften Schreien folgte, erschien Bandolf bald ebenso unerträglich wie die Schreie selbst, und er war erleichtert, als der Falke das Schweigen brach: »Eines würde ich noch gerne erfahren.«
Fragend hob Bandolf den Kopf.
»Das Vorhaben der Aufständischen sollte noch dieses Jahr ausgeführt werden. Es ist sinnlos, einen Aufstand für den Winter zu planen, und der Sommer ist bereits fortgeschritten«, sagte Lothar nachdenklich. »Aber nachdem der Diebstahl der Lanze fehlgeschlagen war und das Kleinod augenscheinlich nicht gefunden werden konnte, hat Raoul dennoch weiterhin gezögert. Warum? Gewiss, die Heilige Lanze ist ein mächtiges Kleinod, und vielleicht hätte sich noch der eine oder andere den Aufständischen angeschlossen, wenn Raoul sie hätte präsentieren können. Aber letzten Endes hatte er genügend Anhänger auf seiner Seite, um den Plan durchzuführen. Warum dann warten?«
»Was denkt Ihr denn, wer der Mann ist?«, fragte der Burggraf.
»Ein burgundischer Edelmann, denke ich, der sich um weiß Gott wie viele Ecken einer Verwandtschaft mit König Rudolf von Burgund brüsten kann«, meinte Lothar mit einem Schulterzucken. »Ich bin ihm, wie Euch bekannt ist, im Frühjahr hier in Worms begegnet. Allerdings wusste ich damals noch nicht, dass er sich hinter Le Grand Seigneur verbirgt.«
Mit einem matten Lächeln klärte der Burggraf ihn auf: »König Rudolf III. von Burgund hinterließ zwar keinen Sohn, den er mit seiner Gattin gezeugt hatte. Aber er zeugte einen Sohn und eine Tochter mit seiner Kebse. Der Sohn wurde Bischof, die uneheliche Tochter verheiratete der König mit einem Burgunder niederen Adels, einem de Saint Rémy. Aus dieser Verbindung ging Raoul hervor, womit er mit Fug und Recht behaupten kann, er sei der Enkel König Rudolfs III. von Burgund. Seine Mutter wurde nur in der falschen Bettstatt gezeugt.«
»Darum also brauchte er die Heilige Lanze.« Lothar nickte. »Sie sollte den Makel wettmachen, sie sollte seinen Anspruch untermauern.«
»Ja. Auch wenn der Aufstand geglückt wäre, gab es keine Gewähr für Raoul, dass man ihm tatsächlich die Krone überlassen hätte. Immerhin gibt es noch den Grafen von Blois-Champagne und Odo von Troyes, deren Anspruch auf die Krone womöglich doch höher eingeschätzt worden wäre als der des Enkels einer Kebse. Könnte Raoul aber die Heilige Lanze sein Eigen nennen, verhielte sich das anders. «
Lothar nickte, dann fragte er neugierig: »Woher wusstet Ihr das? Über eine Kebse König Rudolfs habe ich noch nie etwas gehört.«
»Bruder Goswin, der Scholasticus des Domstifts, hat es mir erzählt.«
»Ein Dombruder?« Lothar lachte schallend. »Herrje, ich sollte öfter zur Messe gehen.«
Es war Nacht, als die beiden Männer schließlich ein Geräusch vernahmen, das den Burggrafen umgehend auf die Beine brachte und aus der Tür stürmen ließ. Und dieses Mal hielt Lothar von Kalborn ihn auch nicht auf.
Bandolf war noch nicht bei der Hütte angelangt, als Garsende mit einem brüllenden Bündel auf dem Arm aus der Tür trat.
»Matthäa?«, fragte er hastig.
Garsende schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln: »Eure Gattin ist wohlauf.«
Flüchtig nahm er die glänzenden Augen in ihrem Gesicht wahr, als sie nach altem Brauch unter dem Türsturz stehen blieb und wartete, bis Lothar von Kalborn und der Köhler hinzugetreten waren. Die beiden Männer würden es bezeugen, wenn der Burggraf das Kind als sein Eigen anerkannte.
Schließlich trat die Heilerin auf Bandolf zu und hielt ihm das winzige Bündel entgegen, das aus Leibeskräften schrie.
›Was für kräftige Lungen er hat‹,
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