Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
holperte über einen Stein, der Karren begann bedenklich zu wanken.
Rifka sprang hastig zurück. Unwillkürlich schrie sie auf, als ihr Rücken gegen einen Körper prallte und ihr Korb zu Boden fiel.
» Mince alors! «, zischte eine Stimme.
Kräftige Hände packten sie und schoben sie grob von sich. Erschrocken fuhr Rifka herum. Für einen Augenblick sah sie gelbe Zähne zwischen einem ungepflegten, dunklen Bart aufblitzen und ein Holzkreuz, das um einen schweißglänzenden Hals baumelte, dann hatte der Mann ihr auch schon den Rücken zugekehrt.
»Verzeiht«, murmelte sie. Da er aber nicht geneigt schien, sich noch einmal umzudrehen und ihr die Höflichkeit einer Antwort zu erweisen, klaubte sie ihren Korb vom Boden auf und schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen.
Plötzlich hielt sie inne und drehte sich beunruhigt um.
Christen waren im jüdischen Viertel kein ungewöhnlicher Anblick. Mochte ein Jude auch noch immer kein gern gesehener Gast in den meisten Häusern der Christen sein, und mochte auch hie und da der Ruf nach Rache an einem Volk aufflackern, das den gekreuzigten Sohn ihres Herrn leugnete, so blühte doch der Handel. Christen schätzten die Kleinodien aus den Werkstätten jüdischer Goldschmiede, das Töpfer- und Stickwerk jüdischer Frauen, die Dienste jüdischer Zimmerleute, ebenso wie Seide, Brokat, Gewürze, Früchte und Kräuter, Sklaven und Waffen, die jüdische Händler über uralte Wege aus Palästina, Persien und Indien herbeischafften. Zwischen Dom und Synagoge herrschte ein reger Austausch um die Auslegung der fünf Bücher Mosches. Nicht selten sah man auf der Gasse sogar die Robe eines Stiftsherrn unter den Tallitot, den schwarzweiß gestreiften Gebetsmänteln jüdischer Männer, und hörte ihre Stimmen laut und eifrig um einen Psalter debattieren.
Warum, in aller Welt, beunruhigte sie nun gerade der Anblick dieses Mannes, dieses Christen?
Nachdenklich musterte Rifka seinen breiten Rücken. Er war nicht weitergegangen. Mit lässig überkreuzten Beinen lehnte er mit einer Schulter an der Wand des Hauses ihres Nachbarn, und es hatte den Anschein, als würde er die Gasse im Auge behalten.
Er trug einen leichten Umhang, die braune Farbe bereits verblasst. Tunika und Beinlinge, die darunter hervorschauten, waren mehrmals und von nachlässiger Hand geflickt worden und hatten, wie der Umhang, zweifellos schon bessere Tage gesehen. Dennoch schien er weder Bauer noch Tagelöhner zu sein. Die Tunika besaß zu beiden Seiten lange Schlitze, wie Reiter sie bevorzugten, um besser im Sattel zu sitzen. Die Schuhe waren aus Leder, und seine Haltung drückte trotz des Anscheins von Lässigkeit angespannte Aufmerksamkeit aus.
›Womöglich ein Krieger?‹, grübelte Rifka. Ein Söldner vielleicht, da er doch der Sprache nach ein Welscher zu sein schien.
Etwas an ihm kam ihr vertraut vor. So, als hätte sie ihn schon einmal gesehen.
Vor Anstrengung, sich genauer zu erinnern, runzelte sie die Stirn.
Dann fiel es ihr wieder ein.
Es war einen Tag nach Schawuot gewesen, als sich die ganze Familie vor dem Haus versammelt hatte, um Joschuas Vater zu verabschieden. An jenem Tag war Jehuda mit seiner Karawane nach Sachsen aufgebrochen. Esther, Rifkas Schwägerin, hatte wie immer genörgelt und mit ihrer durchdringenden Stimme die halbe Gasse wissen lassen, wie unzufrieden sie damit war, dass der Kaufmann selbst die Karawane begleiten würde. Ursprünglich war vorgesehen gewesen, dass Esra, Esthers Ehemann und Joschuas Bruder, dem Unternehmen vorstehen sollte. Doch
dann hatte der alte Kaufmann ganz plötzlich verkündet, dass er selbst die Karawane zu begleiten wünsche. Esther war es nicht gelungen, ihren Ärger darüber zu verbergen, denn nun würde auch nichts vom Gewinn des Handels auf Esra abfallen.
Und während Esther noch auf Jehuda einschwatzte, er möge seine Entscheidung doch noch einmal überdenken, und sogar sein fortgeschrittenes Alter ins Feld führte, hatte Rifka den Mann bemerkt, der an der Ecke des Nachbarhauses stand und Esthers Auftritt aufmerksam zu verfolgen schien.
Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, doch nun …
Stand er womöglich hier, um ihr Heim zu beobachten?
Unwillkürlich sah Rifka sich um.
Die Judengasse war die längste Gasse im Viertel und folgte dem Bogen der nördlichen Stadtmauer von der Lauergasse im Osten bis zur Zwerchgasse im Westen. Auf der einen Seite waren die Reihen der Häuser von schmalen Gässchen durchbrochen, und ein großer Platz
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