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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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ganz auf die Bleistiftspitze zu konzentrieren. Viele Zettel an seinem Anzug waren mit Blut verschmiert und kaum mehr lesbar.
    »Schauen Sie! Wenn man zwei solcher vierreihigen Dreiecke zusammenfügt, erhält man ein Rechteck, das 4 Punkte hoch und 5 Punkte breit ist. Die Summe aller Punkte beträgt 20, also 4 × 5. Verstehen Sie? Wenn man diese Zahl halbiert, erhält man 10, was die Summe aller Zahlen von 1 bis 4 ist:
    1 + 2 + 3 + 4 = 10
    Oder, wenn Sie jede Reihe des Rechtecks in Betracht ziehen, lässt es sich wie folgt darstellen:

    Wenn man das erst einmal weiß, dann ist es ein Kinderspiel, die Summe aller natürlichen Zahlen von 1 bis 10 oder von 1 bis 100 oder noch höher zu ermitteln. Für die Zahlen 1 bis 10 geht das so:
    (10 Reihen × 11 Punkte) : 2 = 55.
    Für 1 bis 100 dann entsprechend: (100 × 101) : 2 =
    5.050.
    Und für 1 bis 1.000 : (1.000 × 1.001) : 2 = 500.500.
    Und von 1 bis 10.000 …«
    Ich bemerkte, dass der Professor weinte. Der Bleistift fiel ihm aus der Hand und rollte über den Boden. Es war das erste Mal, dass ich ihn in Tränen aufgelöst erlebte, und dabei wurde mir bewusst, dass ich bislang immer nur hilflos danebengestanden hatte, wenn er verzweifelt war. Diesmal ergriff ich seine Hand und hielt sie fest.
    »Verstehen Sie?« sagte er. »So kann man die Summe aller natürlichen Zahlen berechnen.«
    »Das habe ich begriffen.«
    »Sie brauchen also nur schwarze Bohnen zu einem Dreieck anzuordnen, nichts weiter.«
    »Ja, so ist es.«
    »Aber haben Sie wirklich verstanden, was ich damit sagen will?«
    »Haben Sie keine Sorge. Es ist alles in Ordnung. Bitte hören Sie auf zu weinen. Sehen Sie nur, wie schön die Dreieckszahlen sind!«
    In dem Moment trat Root aus dem Behandlungszimmer.
    »Seht! Es ist alles in Ordnung!« rief er und winkte mit seiner frisch bandagierten linken Hand.
    Wegen der ungewöhnlichen Umstände gingen wir diesmal auswärts essen. Sobald wir die Praxis verlassen hatten, merkten wir plötzlich alle drei, wie unsere Mägen knurrten. Da der Professor sich unter Menschen unwohl fühlte, gingen wir in ein relativ leeres Restaurant in einer Einkaufspassage am Bahnhof, wo wir Curryreis bestellten. Es war eigentlich klar, dass die Gerichte hier nicht besonders gut schmecken würden, so schlecht wie das Lokal besucht war, aber Root war ganz aufgeregt, da wir uns Restaurantbesuche nur selten leisten konnten. Außerdem war er stolz auf seinen riesigen Verband – der in Anbetracht des kleinen Schnitts fast ein wenig übertrieben war.
    »Jetzt kann ich natürlich eine Zeit lang nicht beim Spülen helfen. Und waschen muss ich mich auch nicht«, verkündete er sichtlich zufrieden.
    Der Professor trug Root auf dem Rücken nach Hause. Entweder lag es daran, dass es bereits dunkel wurde und niemand die beiden erkennen würde, oder er tat es dem Professor zuliebe, jedenfalls ritt Root diesmal mit hochgeschobener Kappe auf seinem Rücken. Ein fast voller Mond schien über der Platanenallee, deren Laub im Licht der Laternen schimmerte. Es wehte eine frische Brise, und alle hatten ihren Hunger gestillt. Das allein stimmte mich schon zufrieden. Meine Schritte waren im Gleichklang mit denen des Professors, während Roots Turnschuhe im Takt schwangen.
    Nachdem wir uns vom Professor verabschiedet hatten, gingen Root und ich nach Hause. Gleich nach unserer Ankunft bekam Root aus unerfindlichen Gründen schlechte Laune. Er ging schnurstracks in sein Zimmer, wo er das Radio einschaltete, und gab keine Antwort, als ich ihn aufforderte, die blutverschmierte Kleidung auszuziehen.
    »Verlieren die Tigers gerade?« fragte ich.
    Root stand an seinem Schreibtisch und starrte auf das Radio. Sie spielten gegen die Giants. »Gestern haben sie verloren, nicht wahr?«
    Immer noch keine Antwort. Der Reporter verkündete, dass es nach der ersten Hälfte des neunten Durchgangs 2 : 2 stand, und Kuwata war als Pitcher dran.
    »Tut es weh?«
    Root biss sich auf die Lippen und starrte das Radio an.
    »Wenn du Schmerzen hast, musst du die Tabletten nehmen, die der Arzt uns mitgegeben hat. Ich bring dir ein Glas Wasser.«
    »Ich will aber nicht.«
    Endlich machte er den Mund auf.
    »Das solltest du aber«, versuchte ich ihn zu überreden. »Stell dir vor, die Wunde fängt an zu eitern.«
    »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht will. Außerdem tut es nicht weh.«
    Er ballte seine bandagierte Hand zur Faust und schlug mehrmals damit auf die Tischplatte, während er mit der rechten Hand seine hervorschießenden

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