Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
Vom Netzwerk:
durch, wenn wir Sätze rückwärts lesen«, sagte der Professor, ohne eine Miene zu verziehen.
    Ich fragte ihn, wie er solch ein Kunststück vollbringen konnte, aber er wusste selbst nicht so recht, wie das zustande kam. Er habe es nie geübt, meinte er nur, und es bedurfte auch keiner besonderen Fähigkeit, sondern geschah eher unbewusst. Außerdem habe er immer geglaubt, das könne jeder Mensch.
    »Das stimmt nicht«, widersprach ich ihm. »Ich würde mich schon nach dem dritten Buchstaben verhaspeln. Das wäre doch etwas für das
Guinnessbuch der Rekorde
oder für eine Fernsehshow wie
Erstaunliche Zeitgenossen

    »
Nessonegtiezehcilnuatsre

    Der Professor fühlte sich sichtlich unwohl bei diesem Gedanken. Und je unwohler er sich fühlte, umso leichter kamen ihm die verdrehten Wörter über die Lippen. Sie entstanden sicher nicht über ein gespiegeltes Abbild in seinem Kopf, sondern gehorchten eher einem Rhythmus. Sobald seine Ohren die Klangstruktur aufgenommen hatten, fiel es ihm nicht mehr schwer, den Satz einfach umzudrehen.
    »Es lässt sich gut mit dem Lösen mathematischer Aufgaben vergleichen«, erklärte der Professor. »Die Formel taucht auch nicht gleich vollständig im Kopf auf. Zuerst sind nur ihre Konturen zu sehen, auch wenn sie als Bild schon greifbar ist. So ungefähr muss man sich das vorstellen.«
    »Können wir das noch mal machen?« fragte Root.
    Er war so fasziniert von der erstaunlichen Gabe des Professors, dass er darüber seine Hausaufgaben vergaß.
    »Also nehmen wir als Nächstes … Hanshin Tigers.«
    »
Sregitnihsnah

    »Rundfunkgymnastik.«
    »
Kitsanmygknufdnur

    »Schulessen.«
    »Nesseluhcs

    »Befreundete Zahlen.«
    »Nelhazetednuerfeb.«
    »Ich habe im Zoo ein Gürteltier gemalt.«
    »Tlamegreitletrügnieoozmiebahhci.«
    »Yutaka Enatsu.«
    »Ustaneakatuy.«
    »Wenn Sie Enatsus Namen rückwärts aussprechen, dann hört es sich an, als wäre er ein Verlierer.«
    Root und ich warfen dem Professor immer neue Sätze zu, die er verdrehen sollte. Zuerst kontrollierten wir noch mit Bleistift und Papier, ob er auch alles richtig umdrehte, aber da ihm kein einziger Fehler unterlief, gaben wir es irgendwann auf.
    »Das ist fantastisch! Darauf können Sie wirklich stolz sein. Wieso haben Sie uns nie davon erzählt?«
    »Stolz, was meinst du damit?« wunderte sich der Professor. »Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen. Worauf sollte ich denn stolz sein?
Yutaka Enatsu
heißt umgedreht
Ustaneakatuy
– weiter nichts.«
    »Doch, darauf können Sie stolz sein! Was meinen Sie, wie andere Menschen darüber staunen würden. Sie wären bestimmt begeistert.«
    »Danke«, wisperte der Professor und verneigte sich schüchtern. Er tätschelte Roots Kopf.
    »Meine Begabung wird den Menschen nicht viel nützen. Wer sollte mit einem solchen Quatsch etwas anfangen können? Aber ich bin glücklich, wenn du mir ein Kompliment machst, Root.«
    Das Palindrom, das der Professor als Tipp für Roots Hausaufgabe parat hatte, lautete:
Pur ist Saft fast Sirup
.
    Eine weitere Fähigkeit des Professors war, früher als andere Menschen den ersten Stern am Himmel zu entdecken. Außer ihm gab es vermutlich niemanden, der so schnell den ersten leuchtenden Stern erkennen konnte, noch bevor es dunkel wurde.
    »Ah«, ertönte es eines frühen Abends, als die Sonne noch am Himmel stand, aus dem Mund des Professors, der in seinem Lehnstuhl saß. Ich dachte zunächst, er wäre eingenickt und würde im Schlaf sprechen. Also reagierte ich gar nicht darauf.
    »Ah«, rief er abermals und hob seine zittrige Hand, um durch das Fenster zum Himmel zu zeigen.
    »Der erste Stern.«
    Zwar hatte er niemanden direkt angesprochen, aber ich unterbrach meine Arbeit in der Küche und blickte in die Richtung, in die sein Zeigefinger wies. Ich sah jedoch nichts weiter als den Himmel.
    Vielleicht bildete er sich etwas ein, weil er zu angestrengt über ein mathematisches Problem nachgedacht hatte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Da, sehen Sie!«
    Unter dem Nagel seines runzligen Zeigefingers war Schmutz. Ich kniff die Augen zusammen, konnte jedoch immer noch nicht mehr als ein paar Wolken erkennen.
    »Ist es nicht ein bisschen zu früh dafür, dass die Sterne aufgehen?« fragte ich zaghaft.
    »Die Nacht ist bereits angebrochen, denn der erste Stern ist erschienen«, erwiderte der Professor und ließ den Arm sinken.
    Ich hatte keine Ahnung, was der Hinweis auf den Abendstern für ihn bedeuten mochte: ob er so seine

Weitere Kostenlose Bücher