Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Menge Freunde hat.«
»Aber einige ungerade Zahlen treten immerhin paarweise auf, wie zum Beispiel 17 und 19 oder 41 und 43«, warf ich ein, um mit Root mitzuhalten.
»Ja, ein sehr kluger Hinweis. Man nennt diese Paare Zwillings-Primzahlen.«
Ich fragte mich, weshalb ganz normale Ausdrücke, sobald sie in der Mathematik benutzt wurden, auf einmal diesen romantischen Klang hatten. Die Begriffe »Befreundete Zahlen« oder »Zwillings-Primzahlen« waren zwar klar definiert, aber zugleich klangen sie poetisch, wie aus einer Gedichtzeile entsprungen. In meiner Vorstellung waren sie immer irgendwie lebendig: Sie umarmten sich oder trugen dieselben Kleider oder standen Hand in Hand nebeneinander.
»Wenn die Primzahlen größer werden, nimmt der Abstand zwischen ihnen zu. Es wird dann schwieriger, welche aufzuspüren. Deshalb weiß man auch nicht, ob es unendlich viele Zwillinge gibt, genau wie die Primzahlen an sich«, erklärte er und malte einen Kringel um die Paare. Was mich an ihm am meisten erstaunte, war, dass er sich nicht scheute zuzugeben, etwas nicht zu verstehen. Für ihn war das überhaupt keine Schande, sondern ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Lösung. So erzählte er uns von nicht geklärten Vermutungen, was ihm genauso wichtig war, wie uns bereits bewiesene Lehrsätze beizubringen.
»Wenn Primzahlen unendlich sind, dann muss es doch noch weitere Zwillinge geben, oder?«
»Ja, vielleicht. Du hast viel Vorstellungskraft, Root. Aber wenn du weiter fortschreitest – jenseits von 100, 1.000, 10.000, 100.000 –, dann irrst du in einer Wüste herum, wo keine Primzahlen mehr auftauchen.«
»Eine Wüste?«
»Ja, man läuft und läuft und trifft auf keine einzige Primzahl. Es gibt nichts als ein Meer von Sand, so weit man nur blicken kann. Die Sonne brennt erbarmungslos herunter, die Kehle ist schon ganz trocken, und vor deinen Augen beginnt alles langsam zu verschwimmen. Schließlich glaubt man, eine Primzahl zu sehen, man rennt los und will danach greifen, doch es ist nur eine Fata Morgana, nicht mehr als heiße Luft. Trotzdem gibt man nicht auf und taumelt weiter, Schritt für Schritt. Bis schließlich am Horizont die Oase der Primzahl auftaucht, die einem frisches Wasser spendet.«
Die Abendsonne warf lange Schatten auf den Boden. Root zeichnete die Kringel um die Zwillings-Primzahlen mit dem Bleistift nach. Von der Küche zog der Dampf des Reiskochers ins Zimmer. Der Professor schaute aus dem Fenster, als würde er eine weite Wüste überblicken. Aber da war nur ein verwahrloster kleiner Garten.
Was der Professor hingegen am meisten verabscheute, waren Menschenansammlungen. Deshalb verließ er auch nur ungern das Haus. An Orten, wo sich viele Leute aufhielten – Bahnhöfe, Kaufhäuser, Kinos, Fußgängertunnel und dergleichen –, konnte er es kaum aushalten. Die Schönheit, nach der er in der Mathematik suchte, stand in fundamentalem Gegensatz zum chaotischen Massenauflauf, wo ein unkalkulierbares Gedränge herrschte.
Der Professor sehnte sich nach Ruhe, was nicht unbedingt absolute Stille bedeutete. Wenn Root beispielsweise durch den Korridor stampfte oder das Radio laut aufdrehte, schien ihn das nicht weiter zu stören. Tief in seinem Innern sollte Ruhe herrschen, nichts durfte von außen dorthin dringen.
Wenn er eine Preisfrage in seinen Mathematik-Revuen gelöst hatte und sich die Reinschrift noch einmal durchlas, bevor er sie mit der Post verschickte, konnte man ihn oft murmeln hören: »Ach, welche Ruhe.«
Er war erfüllt von der geleisteten Arbeit, aber das, was er bei der gelösten Aufgabe empfand, war nicht so sehr Freude oder Erleichterung, sondern vor allem ein Gefühl von tiefem Frieden. Es war ein Zustand der Gewissheit, dass sich alles dort befand, wo es hingehörte. Nichts musste hinzugefügt oder geändert werden, als ob es immer schon so gewesen wäre und immer so sein würde. Diesen Zustand liebte der Professor. Friedliche Ruhe war für ihn das höchste Glück.
Wenn er in guter Stimmung war, sah er mir vom Esstisch aus zu, wie ich in der Küche die Mahlzeiten zubereitete. Besonders beim Formen der Gyoza-Teigtaschen blickte er mich voller Bewunderung an. Ich legte mir ein Teigplättchen auf den Handteller, gab ein wenig von der Füllung darauf und faltete die vier Enden darüber, bevor ich die fertige Tasche neben die anderen auf den Teller legte. Es war eine recht monotone Aufgabe, und trotzdem war er wie hingerissen davon und schaute genau hin, bis das letzte Stück
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