Das Geheimnis der Eulerschen Formel
passiert war. Nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hatte, wollte Root sich einen Apfel schälen, war mit dem Messer abgerutscht und hatte sich dabei zwischen Zeige- und Mittelfinger geschnitten. Der Professor behauptete, er habe den Apfel essen wollen, während Root darauf bestand, dass er eigenmächtig gehandelt hatte. Jedenfalls hatte Root versucht, allein damit fertig zu werden, aber als er kein Pflaster fand und die Wunde nicht aufhörte zu bluten, konnte er, als der Professor ins Zimmer kam, es nicht länger vor ihm verheimlichen.
Um sicherzugehen, dass der Schnitt nichts Schlimmeres angerichtet hatte, wollte ich vorsichtshalber mit Root zum Arzt.
Leider hatten sämtliche Kliniken in der Umgebung zu dieser Uhrzeit bereits geschlossen. Nur eine Kinderarztpraxis hinter dem Bahnhof war telefonisch noch erreichbar, und der Doktor willigte ein, Root zu untersuchen. Ich half dem Professor hoch, und er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann tat er etwas Überraschendes: Er hob Root auf seinen Rücken, und obwohl ich ihm sagte, dass der Junge doch nichts an den Beinen hätte, ließ er sich nicht davon abbringen, ihn zur Klinik zu tragen. Ich war eher besorgt, dass die Wunde dadurch wieder aufplatzen könnte. Es durfte dem Professor, der körperliche Anstrengungen nicht gewohnt war, keineswegs leichtgefallen sein, einen fast dreißig Kilogramm schweren Schuljungen auf dem Rücken zu transportieren, aber er brachte ungeahnte Kräfte auf. Mit Root auf den Schultern, die ich vorhin berührt hatte, und dessen angewinkelte Beine fest eingehakt, schlurfte der Professor in seinen vergammelten Schuhen davon. Root hatte seine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und hielt den Kopf gesenkt, nicht etwa, weil ihn die Wunde schmerzte, sondern weil er sich vor den anderen Leuten schämte. Als wir die Praxis erreichten, hämmerte der Professor so stürmisch gegen die verschlossene Tür, dass man meinen konnte, er würde einen Schwerverletzten transportieren.
»Ich flehe Sie an, machen Sie auf. Das Kind leidet fürchterlich. Helfen Sie uns, ich bitte Sie!«
Die Wunde wurde mit lediglich zwei Stichen genäht. Der Professor und ich saßen im schummrigen Korridor und warteten, bis der Arzt fertig war. Der wollte sichergehen, dass keine Sehne verletzt worden war. Allein schon das Herumsitzen in dieser alten, schäbigen Praxis schlug mir aufs Gemüt. Die Decke war dunkel verfärbt, und unsere dreckigen Überzugsschuhe klebten am Boden. Vergilbte Plakate an den Wänden gaben Ratschläge zum Stillen und zu Impfungen. Die einzige Beleuchtung im Flur war der trübe Lichtschein aus der Röntgenkabine. Für eine reine Routineuntersuchung war Root schon verhältnismäßig lange im Behandlungsraum.
»Haben Sie schon mal etwas von Dreieckszahlen gehört?« fragte mich der Professor und deutete dabei auf das Symbol an der Tür zum Röntgenzimmer, das vor der Strahlungsgefahr warnte.
»Nein«, erwiderte ich.
Offenbar wollte er mit der Anspielung auf unser Lieblingsthema davon ablenken, wie aufgeregt er war, aber man merkte ihm an, dass er Angst hatte.
»Es sind wirklich elegante Zahlen«, fuhr der Professor fort und malte Punkte auf die Rückseite des Fragebogens für Patienten, den er vom Empfang mitgenommen hatte.
»Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Hm … wie soll ich sagen? Es ist, als hätte ein ordnungsliebender Mensch fein säuberlich Brennholz gestapelt … oder schwarze Bohnen aufgereiht.«
»Genau, der entscheidende Punkt ist ›ordnungsliebend‹. Eins in der ersten Reihe, zwei in der zweiten Reihe, drei in der dritten Reihe – das ist die einfachste Methode, ein Dreieck zu bilden.«
Ich betrachtete die Zeichnung. Die Hand des Professors zitterte leicht. Es sah aus, als würden die schwarzen Punkte im Dämmerlicht schweben.
»Man kann die Anzahl der Punkte in jeder Reihe des Dreiecks addieren und so die einzelnen Summen ermitteln – also 1, 3, 6, 10, 15, 21 und so weiter. Das lässt sich mit folgender Gleichung darstellen:«
»Mit anderen Worten, eine Dreieckszahl ist die Summe aller natürlichen Zahlen von 1 bis zu einer gewissen Zahl. Wenn man dann zwei solcher Dreiecke zusammenfügt, wird die Sache noch interessanter. Viele Punkte zu malen wäre sehr mühselig, deshalb bleiben wir bei vier Stufen, also 10 Punkten, und schauen uns das mal an:«
Es war nicht besonders kalt in dem Korridor, aber seine Hand zitterte nun so heftig, dass die Reihen schwarzer Punkte ein wenig schief gerieten. Er versuchte, sich voll und
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