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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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aufrecht und furchtlos. Und stets die gleiche Nummer auf seinem Trikot: 28 – die vollkommene Zahl.
    Ich steckte die Karten in die Dose zurück und schloss sie ebenso behutsam, wie ich sie geöffnet hatte. Weiter hinten im Regal fand ich einen Stapel verstaubter Schulhefte, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Das vergilbte Papier und die ausgeblichene Tinte ließen darauf schließen, dass sie mindestens genauso alt sein mussten wie die Baseballkarten. Eingeklemmt zwischen all den Büchern, hatte sich die Schnur um das etwa dreißig Hefte umfassende Bündel im Laufe der Zeit gelockert. Die Umschläge waren gewellt und eingerissen. Ich blätterte einige durch, fand jedoch kein einziges Schriftzeichen, sondern nur Zahlen und Symbole. Hin und wieder tauchten plötzlich rätselhafte geometrische Gebilde auf, gefolgt von ebenso merkwürdigen Kurven und anderen grafischen Darstellungen. Ich erkannte sofort die Handschrift des Professors. Sie wirkte zwar schwungvoller und energischer als heute, aber die Ähnlichkeit mit einem Schleifenknoten bei der 4 und die vornüber geneigte 5 waren unverkennbar.
    Es gibt natürlich nichts Schlimmeres, was sich eine Haushälterin zuschulden kommen lassen kann, als die persönlichen Dinge ihres Arbeitgebers zu durchsuchen. Aber die außerordentliche Schönheit dieser Hefte ließ mich diesen Grundsatz vergessen. Die Zahlenreihen schlängelten sich fast eigensinnig über das Papier, ohne sich um die linierte Vorlage zu scheren. Wenn man glaubte, sie fügten sich zu einer Einheit, stoben sie wieder auseinander, dazwischen wirbelten Pfeile und andere mathematische Symbole wieoder Σ herum. Teilweise waren die Formeln bis zur Unkenntlichkeit überschrieben, teils von Würmern zerfressen. Und doch waren sie schön.
    Natürlich verstand ich nichts davon und vermochte somit nicht an dem hier verborgenen Geheimnis teilzuhaben. Trotzdem hätte ich mir das Schulheft noch eine Ewigkeit anschauen können.
    Ob der Beweis für die Artin-Vermutung hier aufgeführt war, die der Professor mal erwähnt hatte? Und bestimmt gab es auch Überlegungen zu den von ihm hochgeschätzten Primzahlen. Vielleicht befanden sich hier sogar die Notizen für die Arbeit, die ihm den Preis mit der Nummer 284 eingebracht hatte. Ich konnte sehr viel herauslesen: seine Leidenschaft in der verwischten Bleistiftspur, die Ungeduld in den durchgestrichenen Zahlen, die Gewissheit in einer zweifachen Unterstreichung. Diese Fülle von Formeln führte mich bis ans Ende der Welt.
    Als ich mir die Aufzeichnungen etwas gewissenhafter anschaute, entdeckte ich hier und da einige hingekritzelte Worte, von denen ich einige sogar entziffern konnte:
    Definitionen von Lösungen müssen überprüft werden
    Fehler bei der halbstabilen Konjektur
    Neuer Ansatz wertlos
    14.00 vor der Bibliothek mit N
.
    Im Vergleich zu den traurigen Erinnerungszetteln an seinem Anzug, zeugten diese Notizen von großer Lebenskraft, obwohl sie nur beiläufig zwischen den jeweiligen Formeln standen. Ich entdeckte eine mir unbekannte Seite des Professors, damals befand er sich im Vollbesitz seiner Kräfte.
    Was war wohl um 14.00 Uhr vor der Bibliothek geschehen? Und wer war N.?
    Ich strich über die Seiten und spürte an den Fingerspitzen die mit Bleistift niedergeschriebenen Formeln. Symbole und Zahlen verbanden sich zu einer einzigen langen Kette, die sich über die Seite spannte. Glied um Glied folgte ich dieser Kette, und alles um mich herum verschwand, kein Lichtstrahl gelangte mehr zu mir, kein Laut, aber ich fürchtete mich nicht. Denn ich wusste genau, dass der Professor mich in eine Welt ewiger, unumstößlicher Wahrheiten führte.
    Als ich die letzte Seite im letzten Heft aufschlug, riss die Kette plötzlich, und ich blieb im Dunkeln zurück. Hätte ich nur ein bisschen weiterlesen können, wäre ich vielleicht auf das gestoßen, was ich suchte. Aber sosehr ich meinen Blick auch schweifen ließ, es war weit und breit keine Zahl mehr zu sehen, die mir Halt geben konnte.
    »Entschuldigen Sie bitte …« Ich hörte, wie der Professor aus dem Badezimmer nach mir rief. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss …«
    Ich verstaute alles wieder an seinem Platz und rief so energisch, wie ich nur konnte: »Ich komme!«
    Im Mai kaufte ich drei Eintrittskarten für das Spiel der Hanshin Tigers am 2. Juni gegen die Hiroshima Carps. Die Tigers spielten zwei Mal im Jahr in der Stadt, wo wir wohnten, und wenn man die Gelegenheit verpasste, hätten wir wieder eine

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