Das Geheimnis der Eulerschen Formel
bändigen. Fröhlich hopste er um mich herum.
»Natürlich will ich sie sehen. Ich will sie unbedingt sehen. Wir gehen hin. Wir müssen auf jeden Fall hin!«
Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen und fiel mir schließlich um den Hals: »Danke, Mama!«
Am 2. Juni herrschte zum Glück freundliches Wetter. Die Sonne strahlte am blauen Himmel, und im Bus saßen viele Fahrgäste, die wie wir zum Baseballstadion wollten.
Root trug eine Tröte bei sich, die er sich von einem Freund geliehen hatte, und natürlich seine Baseballkappe mit dem Logo der Tigers. Alle fünf Minuten fragte er nach, ob ich auch wirklich die Eintrittskarten eingesteckt hätte. In der einen Hand trug ich einen Picknickkorb mit Proviant, in der anderen eine Thermoskanne mit Tee, aber durch sein ständiges Fragen wurde ich selbst ganz unsicher und griff hin und wieder verstohlen an meine Rocktasche, um mich zu vergewissern, dass die Karten noch da waren.
Der Professor trug wie üblich seinen Anzug mit den Zetteln. Dazu hatte er die vergammelten Lederschuhe angezogen, und seine Bleistifte steckten wie immer in der Brusttasche. Bis der Bus vor dem Stadion hielt, klammerte er sich an der Sitzlehne fest, wie damals beim Friseur.
Ich hatte ihm, exakt achtzig Minuten bevor der Bus abfahren sollte, von dem Spiel erzählt.
Root war bereits aus der Schule zurück, und wir versuchten, es dem Professor so beiläufig wie möglich beizubringen. Zuerst begriff er überhaupt nicht, was wir beide im Sinn hatten. Ich glaube, er wusste nicht einmal, dass Baseballspiele landesweit in Stadien ausgetragen wurden und Leute sich Eintrittskarten kauften, um solch ein Spiel zu sehen. Es war eigentlich auch kein Wunder in Anbetracht der Tatsache, dass er erst kürzlich von der Übertragung solcher Spiele im Radio erfahren hatte. Für ihn hatte Baseball bislang nur als Rubrik im Sportteil einer Zeitung existiert. Und als Sammelkarten.
»Sie meinen, dass ich da hingehen soll?« fragte er nachdenklich.
»Wir wollen Sie selbstverständlich nicht dazu zwingen. Aber wir würden uns freuen, wenn Sie uns begleiten.«
»Hm, in ein Baseballstadion … und dann noch mit dem Bus …«
Nachzudenken war ja eine Stärke des Professors, und wenn wir ihn hätten gewähren lassen, dann würde er wohl heute noch darüber grübeln.
»Und werden wir Enatsu sehen?«
Seine Frage traf den wunden Punkt. Root antwortete so, wie wir es vorher vereinbart hatten.
»Enatsu hat vorgestern leider schon gegen die Giants in Kôshi-en gespielt. Deshalb wird er heute auf der Reservebank sitzen. Es tut mir leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber schade ist es schon. Hat er wenigstens gewonnen?«
»Aber natürlich. In dieser Saison ist es schon sein siebter Sieg.«
Der derzeitige Pitcher mit der Nummer 28 war Yoshihiro Nakada, der wegen einer Schulterverletzung aber nur selten zum Einsatz kam. Schwer zu sagen, ob das ein Glücksfall war oder nicht. Wenn der Spieler mit der Nummer 28 nicht als Pitcher antrat, würde sich der Professor wahrscheinlich wundern, aber falls Nakada sich weiter hinten in der Aufwärmzone zum Einwerfen aufhielt, konnten wir den Professor wegen seiner schwachen Augen immerhin ablenken. Da er Enatsu niemals spielen gesehen hatte, dürfte er auch seinen Wurfstil nicht kennen. Wenn jedoch Nakada tatsächlich als Pitcher aufgestellt wurde und auf dem Wurfhügel erschien, dann würde der Professor das sehr wohl erkennen. Nakada war im Gegensatz zu Enatsu Rechtshänder. Wir konnten also nur hoffen, dass die Nummer 28 gar nicht erst das Spielfeld betrat.
»Also los, gehen wir! Es macht mir mehr Spaß, wenn Sie mitkommen, Professor.«
Damit hatte Root die Sache beschlossen, und der Professor willigte schließlich ein.
Als wir aus dem Bus stiegen, ließ er die Sitzlehnen los und klammerte sich stattdessen an Roots Hand. Die beiden redeten den ganzen Weg zum Stadion kein Wort. Der Professor war zweifellos schockiert angesichts dieser fremden Umgebung, die sich so sehr von seinen vertrauten vier Wänden unterschied, während Root wegen seiner geliebten Hanshin Tigers völlig aus dem Häuschen war. Jedenfalls schienen beide die Sprache verloren zu haben und blickten sich staunend im Stadion um.
»Ist alles in Ordnung?« erkundigte ich mich von Zeit zu Zeit, worauf der Professor wortlos nickte und Roots Hand noch fester umklammerte.
Als wir die Treppe hinauf zur Tribüne erklommen hatten, entfuhr uns allen dreien ein Schrei der Bewunderung. Vor unseren Augen
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