Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
Vom Netzwerk:
breitete sich mit einem Mal das Spielfeld aus: der weiche dunkle Boden vor dem Wurfhügel, die noch unberührten Male, die schnurgerade gezogenen weißen Linien und der ebenmäßig getrimmte Rasen des Außenfelds. Es dämmerte bereits, und der Abendhimmel schien zum Greifen nah. Just in dem Moment, als wir eintrafen, gingen die Flutlichter an, so als hätten sie nur auf uns gewartet. Bunte Scheinwerfer schossen kreuz und quer durch das Stadion, das nun aussah wie ein aus dem All gelandetes Raumschiff.
    Hätte der Professor das Spiel überhaupt genießen können? Noch Jahre später, wenn Root und ich zuweilen auf diesen denkwürdigen 2. Juni 1992 zu sprechen kamen, fragten wir uns, ob er sich tatsächlich für ein echtes Spiel wie dieses hier begeistert hatte. Wir bereuten es dann manchmal, ihn dazu überredet und unnötig erschöpft zu haben.
    Doch die gemeinsam erlebten Stunden waren mit der Zeit keineswegs verblasst, sondern stiegen nun noch lebhafter in unserer Erinnerung auf und wärmten unsere Herzen. Die beschädigten, unbequemen Sitze; der Mann, der sich von Anfang bis Ende des Spiels an den Maschendraht geklammert und unentwegt »Kaneyama« geschrien hatte; das Eiersalat-Sandwich mit dem Senf, der zu scharf war; die Lichter eines über das Stadion fliegenden Flugzeugs, die aussahen wie eine Sternschnuppe. Wir gedachten wehmütig jeder Einzelheit, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Wenn wir unsere Erinnerungen an dieses Baseballspiel austauschten, kam es uns so vor, als würde der Professor noch neben uns sitzen.
    Unsere Lieblingsepisode war jedoch die, wie der Professor sich in eine Getränke-Verkäuferin verguckt hatte. Die Tigers hatten soeben den zweiten Spielabschnitt beendet, als Root, der sein Sandwich bereits heruntergeschlungen hatte, einen Saft haben wollte. Als ich eine der Verkäuferinnen herbeiwinken wollte, hielt mich der Professor mit einem vehementen »Nein!« zurück. Ich fragte ihn nach dem Grund, aber er gab keine Antwort. Sobald ich dem nächsten vorbeikommenden Mädchen ein Zeichen geben wollte, rief er abermals »Nein!«. Sein Tonfall war derart resolut, dass ich zunächst dachte, er würde es nicht gutheißen, wenn Root einen Saft trinken würde, weil er es für ungesund hielt.
    »Dann trink doch einfach von dem Tee, den ich mitgebracht habe«, schlug ich Root vor.
    »Den mag ich aber nicht. Der schmeckt bitter.«
    »Na, dann kauf dir am Getränkestand eine Milch.«
    »Ich bin doch kein Baby mehr. Außerdem verkaufen sie hier im Stadion keine Milch. Bei einem Baseballspiel trinkt man Saft aus einem großen Pappbecher. So sind die Regeln.«
    Es war typisch für Root, eine Idealvorstellung davon zu haben, wie die Dinge zu sein hatten. Wohl oder übel musste ich versuchen, den Professor umzustimmen: »Können wir ihm nicht einen Becher erlauben?«
    Seine Miene war immer noch streng, als er in mein Ohr flüsterte: »Wenn Sie unbedingt Saft kaufen wollen, dann bei der jungen Frau da drüben.«
    Er deutete auf die junge Verkäuferin, die gerade den Aufgang hochkam.
    »Wieso das denn? Es ist doch egal, bei wem ich das Getränk kaufe.«
    Trotz mehrmaliger Nachfrage bekam ich zunächst keine klare Begründung von ihm, aber als Root immer weiter klagte, er sei durstig, gab der Professor schließlich nach und gestand: »Sie ist die hübscheste von allen.«
    Er hatte in der Tat einen Blick dafür. Als ich mich umschaute, musste ich ihm recht geben: Sie war mit Abstand das hübscheste Mädchen und hatte das sympathischste Lächeln.
    Weil wir den Moment abpassen wollten, als sie wieder bei uns vorbeikam, achteten wir mehr auf die Zuschauertribüne als auf das Spielfeld. So bekamen wir gar nicht richtig mit, dass die Tigers im dritten Durchgang punkteten.
    Als die Verkäuferin schließlich in der Reihe vor uns entlangging, winkte der Professor sie herbei, um für Root einen Becher Saft zu kaufen. Als er ihr mit zittriger Hand die Münzen hinhielt, lächelte sie freundlich und ließ sich nicht von diesem wunderlichen Aufzug mit all den Zetteln irritieren. Einzig Root beklagte sich über das ganze Hin und Her, da er so lange auf seinen Saft warten musste, aber seine gute Laune kehrte zurück, als der Professor jedes Mal, wenn das Mädchen wieder bei uns vorbeikam, Popcorn, Eiscreme und weitere Becher mit Saft kaufte.
    Obwohl der Professor sich von einer ganz neuen Seite zeigte, war er immer noch der alte Mathematiker. Als er bei unserer Ankunft das Spielfeld erblickte, waren seine ersten Worte: »Die

Weitere Kostenlose Bücher