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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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durchbrach das Anspitzen des Bleistifts die Stille – ein Geräusch, das mich erleichtert aufatmen ließ. Nun wusste ich, dass der Professor noch unversehrt unter uns weilte und mit seinem Beweis vorankam.
    Ich fragte mich, wie er über einen längeren Zeitraum an solchen Problemen arbeiten konnte, wenn er sich doch jeden Morgen nach dem Erwachen an nichts mehr erinnerte. Doch da der Professor sich seit seinem Unfall im Jahre 1975 mit nichts anderem als mit Mathematik befasst hatte, setzte er sich wohl instinktiv an den Schreibtisch und konzentrierte sich auf die vor ihm liegenden Probleme. Um wieder auf denselben Kenntnisstand wie am Vortag zu kommen, konnte er nur auf sein Schulheft zurückgreifen sowie auf die Notizen, die ihn wie ein Kokon umhüllten.
    Als ich derart in Gedanken versunken das Abendessen zubereitete, stand er plötzlich neben mir. Normalerweise bekam ich ihn so gut wie nie zu Gesicht, wenn er mit einem mathematischen Problem beschäftigt war. Und ich hatte weder das Knarzen der Tür noch seine Schritte gehört.
    Da ich nicht wusste, ob ich ihn ansprechen sollte oder nicht, entkernte ich weiterhin Paprikaschoten und schälte Zwiebeln, wobei ich hin und wieder verstohlen zu ihm hinüberschielte. Mit verschränkten Armen lehnte er an der Theke zwischen Küche und Essraum und starrte stumm auf meine Hände. Daher fühlte ich mich ein wenig unwohl, als ich die Eier aus dem Kühlschrank holte, um die Omeletts zu machen.
    »Möchten Sie etwas?« fragte ich schließlich, weil ich das Schweigen nicht länger ertrug.
    »Machen Sie ruhig weiter«, forderte er mich mit sanfter Stimme auf.
    Ich war überrascht und erleichtert zugleich.
    »Ich mag es, Ihnen beim Kochen zuzusehen«, fügte er hinzu.
    Ich schlug die Eier auf und verrührte sie in der Schüssel. Seine Worte hallten in meinem Inneren nach. Um meinen Kopf freizubekommen und den Klang zu ersticken, konzentrierte ich mich ganz auf die Eier. Ich rührte immer weiter, obwohl ich eigentlich schon fertig war. Es war mir unbegreiflich, weshalb der Professor das gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn das mathematische Problem überfordert, und er war einfach verwirrt. Als meine Hand müde wurde, hielt ich inne.
    »Und was machen Sie jetzt?« fragte der Professor in ruhigem Ton.
    »Tja, was kommt als Nächstes dran …? Ach ja, ich muss die Schweinefilets braten.«
    Seine plötzliche Anwesenheit hatte mich völlig aus dem Konzept gebracht.
    »Werden die Eier nicht gleich gebraten?«
    »Nein, es ist besser, sie einen Moment stehen zu lassen, damit sich die Gewürze besser entfalten können.«
    Root war zum Spielen in den Park gegangen. Das Nachmittagslicht brach durch die Baumkronen im Garten. Es wehte kein Lüftchen, und der Vorhang hing schlaff neben dem geöffneten Fenster. Der Professor beobachtete mich mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den er sonst beim Nachdenken hatte. Das Schwarz seiner Pupillen wurde glasig, und seine Wimpern zitterten bei jedem Atemzug. Obwohl er mich ansah, schien er auf eigenartige Weise entrückt. Ich panierte die Filetstücke in Mehl und verteilte sie in der Pfanne.
    »Wieso müssen die Fleischstücke hin und her geschwenkt werden?«
    »In der Mitte ist die Pfanne heißer als am Rand. Um die Stücke gleichmäßig zu braten, muss man sie ab und zu verschieben.«
    »Aha, ich verstehe. Keines von ihnen wird bevorzugt. Alle müssen sich miteinander arrangieren.«
    Verglichen mit dem mathematischen Problem, mit dem er sich gerade befasste, sollte man meinen, dass ihm das Braten von Fleisch nebensächlich erschien, aber er nickte so eifrig, als hätte er eine einzigartige Formel entdeckt. Der Duft des gebratenen Fleischs breitete sich in der Küche aus.
    Für den Salat schnitt ich die Paprikaschoten und Zwiebeln in Scheiben und bereitete ein Dressing mit Olivenöl vor. Danach briet ich die Eier. Eigentlich wollte ich geraspelte Karotten in den Salat mogeln, aber unter den Augen des Professors konnte ich dies unmöglich tun. Er sagte kein Wort mehr. Aufmerksam sah er zu, wie ich eine Zitrone schälte. Dann sah er mit großen Augen, wie ich das Öl mit Essig vermischte und das Dressing eine milchige Farbe annahm. Als ich die dampfenden Omeletts auf die Theke stellte, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer.
    Mir war die Situation noch immer nicht geheuer. »Was finden Sie daran bloß so interessant? Ich bereite doch nur das Abendessen zu.«
    »Ich mag es, Ihnen beim Kochen zuzusehen.« Seine Antwort war dieselbe wie vorhin.
    Er löste seine

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