Das Geheimnis der Eulerschen Formel
schlagartig die Welt. Alles löst sich in 0 auf.
Mit dem leuchtenden Schweif einer Sternschnuppe zieht die Eulersche Formel über das nächtliche Firmament. Sie ist wie eine Gedichtzeile, eingeritzt in die Wand einer dunklen Höhle. Seltsam ergriffen von der darin verborgenen Schönheit, verstaute ich den Zettel des Professors wieder in meinem Portemonnaie.
Bevor ich ins Erdgeschoss hinabstieg, drehte ich mich noch einmal um. Im Saal war immer noch kein Mensch. Totenstill lag er da. Und niemand ahnte, welch kostbarer Schatz darin verborgen lag.
Am nächsten Tag ging ich wieder in die Bibliothek. Ich wollte noch einer Sache nachgehen, die mich schon lange beschäftigte. Als ich den Band mit den Ausgaben der Regionalzeitung aus dem Jahr 1975 fand, ging ich geduldig Seite für Seite durch. Der Artikel, nach dem ich suchte, tauchte dann im Lokalteil der Ausgabe vom 24. September auf.
Am 23. September gegen 16.10 Uhr ereignete sich auf der Bundesstraße 2 ein Verkehrsunfall. Der Lkw einer Speditionsfirma kam auf die Gegenspur und stieß frontal mit einem Pkw zusammen. Ein bekannter Mathematikprofessor erlitt schwere Kopfverletzungen und schwebt immer noch in Lebensgefahr, während seine Schwägerin, die auf dem Beifahrersitz saß, einen komplizierten Beinbruch davontrug. Der Fahrer des Lkws kam mit geringfügigen Verletzungen davon und wird nun von der Polizei verhört, da er vermutlich am Steuer eingeschlafen war.
Ich klappte den Band wieder zu. In meinem Kopf ertönte das Klacken ihres Stockes.
Seit all dem ist Roots Foto in meinem Portemonnaie längst verblasst, aber den Zettel des Professors trage ich noch immer bei mir. Die Eulersche Formel ist ein Andenken, ein Schatz, der mir Halt und Trost spendet.
Ich fragte mich immer wieder, weshalb der Professor damals die Formel auf den Zettel geschrieben hatte. Er hatte weder zornig die Stimme erhoben noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Er hatte nur diese Formel niedergeschrieben, um den Streit zwischen der Witwe und mir zu schlichten. Was wiederum dazu führte, dass ich wieder als Haushälterin eingestellt wurde und der Professor seine Freundschaft zu Root erneuerte. Hatte er das von vornherein beabsichtigt? Oder war es einfach nur eine spontane Geste gewesen, die ihm zufällig in den Sinn kam?
Eins stand jedenfalls fest: Seine größte Sorge galt Root. Wahrscheinlich hatte er Angst gehabt, dass Root sich schuldig fühlen könnte, weil seine Mutter sich seinetwegen mit der anderen Frau stritt. Es war eben das einzige Mittel, das dem Professor zur Verfügung stand, um Root zu helfen.
Nach all den Jahren bin ich immer noch sprachlos über die große Zuneigung, die der Professor gegenüber Kindern empfand – ich wusste nur, dass diese Zuneigung ebenso wahr und unveränderlich war wie die Eulersche Formel.
Der Professor wollte meinen Sohn um jeden Preis beschützen. Ganz gleich, wie verfahren die Situation auch sein mochte, er tat alles, was in seiner Macht stand, um Root zu Hilfe zu eilen. Das sah er stets als seine Pflicht an, und deren Erfüllung bereitete ihm die größte Freude.
All dies drückte sich jedoch nicht allein in seinen konkreten Handlungen aus, sondern war auch in anderer Form spürbar. Root entging nie auch nur das geringste Detail. Ich bemerkte, dass er keine der freundlichen Gesten des Professors unbeachtet ließ oder sie als selbstverständlich ansah, sondern ihm zutiefst dankbar dafür war.
Wenn ich dem Professor beim Essen mehr auftat als Root, zog jener sofort ein missbilligendes Gesicht und wies mich zurecht. Es war das eherne Prinzip des Professors, dass der Kleinste am Tisch immer die größte Portion bekam.
Selbst wenn er gerade mit einem schwierigen mathematischen Problem zu kämpfen hatte, hatte er immer Zeit für meinen Sohn. Er freute sich, wenn Root ihm eine Frage stellte, egal um was es sich drehte, denn er war der Meinung, dass die Probleme von Kindern wichtiger waren als die der Erwachsenen. Dabei kam es ihm weniger auf eine die konkreten Antworten an, sondern er vermittelte uns, dass das Fragenstellen an sich von unschätzbarem Wert sei.
Der Professor sorgte sich auch um Roots körperliches Wohlergehen. Noch vor mir bemerkte er bei ihm eine eingewachsene Wimper oder ein Furunkel hinter dem Ohr. Der Junge brauchte nur vor ihm zu stehen, und der Professor verstand mit einem einzigen Blick, worauf wir achtgeben mussten. Um Root nicht unnötig zu beunruhigen, machte er mich dann verstohlen darauf aufmerksam.
Ich erinnere
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