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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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Wissenschaft sollte er eigentlich über Blitze Bescheid wissen, aber offenbar hatte ich mich getäuscht.
    »Der Abendstern hat heute einen verschwommenen Hof. An solchen Tagen schlägt meist das Wetter um.«
    Seine meteorologischen Erklärungen standen in auffallendem Gegensatz zu seinen streng logischen Ausführungen zur Mathematik.
    Der Regen prasselte immer heftiger herunter, die Blitze zuckten nun fast ununterbrochen, und das Donnergrollen ließ die Fensterscheiben erzittern.
    »Ich mache mir Sorgen um Root«, sagte ich.
    »Ich habe einmal in einem Buch gelesen, dass die Sorge um ihre Kinder die größte Prüfung für Eltern ist.«
    »Seine Reisetasche ist wahrscheinlich völlig durchnässt, und das Zeltlager dauert noch vier Tage. Wie soll er da zurechtkommen?«
    »Es ist doch nur ein Regenschauer. Morgen, wenn die Sonne wieder scheint, wird alles schnell wieder trocknen.«
    »Aber wenn Root nun vom Blitz getroffen wird?«
    »Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist sehr gering.«
    Sonst war der Professor immer übermäßig um Root besorgt gewesen, aber diesmal musste er die Rolle des Tröstenden übernehmen. Es stürmte inzwischen so heftig, dass die Bäume ächzten. Aber je stärker das Unwetter draußen tobte, desto stiller wurde es hier im Pavillon. Drüben im Haus der Witwe brannte in einem der oberen Zimmer Licht.
    »Ich fühle mich ganz leer, wenn Root nicht da ist«, sagte ich.
    »Inhaltsleer im Sinne von Null?« fragte der Professor leise.
    »Nun ja, so könnte man sagen.« Ich nickte unsicher.
    »Derjenige, der die Null entdeckt hat, muss ein Genie gewesen sein, finden Sie nicht?«
    »Gab es die Null denn nicht schon seit ewigen Zeiten?«
    »Was meinen Sie damit? Nehmen Sie etwa an, dass die Null bei der Geburt des Menschen bereits existierte, so wie Blumen oder die Sterne? Was für ein gravierendes Missverständnis! Sie sollten dem Forschergeist des Menschen mehr Achtung zollen.«
    Der Professor hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und raufte sich das Haar. Er wirkte auf einmal ganz aufgewühlt. Schuppen drohten auf den Teller zu rieseln, den ich hastig unter den Sessel schob.
    »Wer war es denn, der sie entdeckt hat?«
    »Ein unbekannter indischer Mathematiker. Er griff die Lehrsätze der griechischen Mathematik auf und fügte ihr neue Erkenntnisse hinzu. Die alten Griechen waren nämlich der Auffassung, dass man alles, was nicht existiert, auch nicht zu zählen braucht. Das sogenannte Nichts war ihrer Meinung nach durch keine Zahl darstellbar. Bis sich endlich jemand fand, der die Vorbehalte überwand, das Nichts als Zahl auszudrücken. Der das Nichtexistierende existent machte. Das ist doch brillant, oder?«
    »Ja, allerdings«, stimmte ich zu, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie meine Sorge um Root durch einen indischen Mathematiker zerstreut werden konnte. Immerhin wusste ich aus Erfahrung, dass es sich lohnte, darauf einzugehen, wenn der Professor mit so viel Begeisterung von einer Sache sprach.
    »Demnach haben wir es einem großen indischen Zahlengelehrten, der die Null in Gottes Notizbuch entdeckt hatte, zu verdanken, dass wir nun einige Seiten mehr darin entziffern können. Habe ich recht?«
    »Genauso ist es. Hier, ich zeige Ihnen etwas.«
    Der Professor zog Notizblock und Bleistift aus der Jackentasche. Wie oft hatte ich diese Geste schon gesehen. In diesen Momenten strahlte er eine unendliche Weisheit aus.
    »Es ist der Null zu verdanken, dass wir diese beiden Zahlen auseinanderhalten können.«
    Er benutzte die Armlehne des Sessels als Unterlage, als er die beiden Zahlen 38 und 308 notierte. Die Null unterstrich er doppelt.
    »38 besteht aus 3 Zehnern und 8 Einern. 308 setzt sich zusammen aus drei Hundertern, keinem Zehner und 8 Einern. Die Zehnerstelle ist also leer, und das wird durch das Symbol der 0 dargestellt. Ist das verständlich?«
    »Ja.«
    »Gut. Dann stellen Sie sich bitte ein Lineal vor. Ein dreißig Zentimeter langes Holzlineal. Jeder Zentimeter ist markiert, alle fünf Zentimeter sind die Striche etwas länger. Und was befindet sich auf der Skala ganz links?«
    »Die Null.«
    »Genau. Jetzt kommen wir der Sache näher. Am linken Rand befindet sich die Null, hier beginnt das Lineal. Man braucht also nur den Rand dessen, was man messen möchte, an die Null anzulegen, und schon weiß man die Länge. Wenn es mit 1 beginnen würde, wäre es viel umständlicher. Wir haben es also der Null zu verdanken, dass wir das Lineal so problemlos benutzen können.«
    Es regnete

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