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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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sich im Sessel zu mir umdrehte.
    »Gerne. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
    Bis zum Sonnenuntergang war noch etwas Zeit, aber am Himmel hatten sich dunkle Wolken zusammengebraut, und der Garten changierte in einem Dämmerlicht, als wäre er in violettes Zellophan-Papier gehüllt. Ein leichter Wind kam auf. Ich brachte dem Professor eine aufgeschnittene Melone und nahm neben seinem Sessel Platz.
    »Essen Sie doch auch davon.«
    »Nein, danke. Kümmern Sie sich nicht um mich.«
    Der Professor zerteilte die einzelnen Scheiben mit der Gabel, wobei Saft auf den Tisch spritzte.
    Ohne Root war es ruhig im Pavillon. Auch aus dem Haupthaus drang kein Geräusch zu uns herüber. Einen Moment lang hörte ich eine Zikade, bevor wieder Stille einkehrte.
    »Wollen Sie nicht doch ein Stück?«
    Er bot mir die letzte Scheibe an.
    »Nein, wirklich nicht. Essen Sie ruhig.«
    Ich reichte dem Professor eine Serviette für seinen klebrigen Mund.
    »Heute war es sehr heiß.«
    »Ja sehr«, erwiderte er.
    »Vergessen Sie nicht, die Tabletten gegen die Hitzebläschen einzunehmen. Sie stehen im Badezimmer.«
    »Ich werde daran denken.«
    »Morgen soll es noch heißer werden.«
    »Ja. Ständig klagen wir über die Hitze – und ehe man sichs versieht, ist der Sommer vorbei.«
    Die Bäume begannen plötzlich laut zu rascheln, und der Himmel wurde augenblicklich schwarz. Die Kammlinie der Berge, die eben noch am Horizont im Abendrot schimmerte, war nun völlig von der Dunkelheit verschluckt. In der Ferne ertönte Donnergrollen.
    »Ein Gewitter!« riefen wir beide wie aus einem Munde.
    In dem Moment begann es auch schon zu regnen. Die Tropfen waren so groß, dass man sie einzeln sehen konnte. Das Prasseln auf dem Dach war ohrenbetäubend. Als ich die Fenster schließen wollte, sagte der Professor: »Ach, lassen Sie ruhig! Die frische Luft tut gut.«
    Durch die aufgeblähten Gardinen regnete es herein, und Tropfen benetzten meine nackten Füße. Er hatte recht, es war eine Wohltat. Die Nacht war hereingebrochen, und der Garten war nur noch schwach beleuchtet von dem Lämpchen über dem Spülbecken, das ich vergessen hatte auszuschalten. Ein paar kleine Vögel, die sich im Laub der Bäume versteckt hatten, flogen auf. Die dicht gewachsenen Zweige hingen herab, bis schließlich alles hinter dem Regenteppich verschwand. Es duftete nach nasser Erde. Das Donnergrollen rückte näher.
    Ich dachte an Root. Ob er sein Regencape fand, das ich eingepackt hatte? Ich hätte ihm ein zweites Paar Turnschuhe mitgeben sollen. Hoffentlich hatte er aus Übermut nicht zu viel gegessen. Und dass er sich bloß keine Erkältung holte, wenn er mit nassen Haaren einschlief.
    »Ob es auch in den Bergen regnet?« fragte ich.
    »Dort ist es bereits dunkel, man kann nichts erkennen«, erwiderte der Professor, während er mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont blickte. »Ich glaube, ich brauche eine neue Brille. Wieso wollen Sie denn wissen, ob das Gewitter auch in die Berge zieht?«
    »Mein Sohn ist dort im Zeltlager.«
    »Ihr Sohn?«
    »Ja, er ist zehn. Er ist verrückt nach Baseball und ein richtiger kleiner Kobold. Sie haben ihn Root getauft wegen seines platten Schädels.«
    Wie immer betete ich meine Erklärungen herunter. Schließlich hatten Root und ich einen Pakt geschlossen, dass wir dem Professor auf die immer wiederkehrende Frage unverdrossen die immer gleiche Antwort geben wollten, ohne uns anmerken zu lassen, wie ermüdend dies war.
    »Aha, Sie haben also ein Kind. Das ist fein.«
    Wie üblich hellte sich die Miene des Professors auf, als das Gespräch auf Root kam.
    »Es ist großartig, wenn Kinder im Sommer zelten gehen. Das ist gut für ihre Gesundheit.«
    Der Professor lehnte sich zurück und streckte seine Glieder aus. Sein Atem roch nach Melone.
    Draußen zuckte ein Blitz durch die Luft, und die Donnerschläge wurden lauter. Das grelle Licht bahnte sich ungehindert seinen Weg durch die Dunkelheit und beherrschte den Himmel. Immer wenn ein Blitz aufzuckte, blieb die Spur des Lichts als Abbild noch eine Weile auf meiner Netzhaut zurück.
    »Der eben ist bestimmt irgendwo eingeschlagen«, sagte ich, worauf der Professor mit einem Brummen antwortete.
    Regentropfen wehten ins Zimmer. Ich krempelte seine Hosenbeine hoch, damit sie nicht nass wurden. Er zuckte zusammen, als würde ich ihn kitzeln.
    »Blitze schlagen gewöhnlich in höheren Regionen ein. Insofern ist es in den Bergen gefährlicher als in der Ebene«, fügte ich hinzu.
    Als Mann der

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